Briefe an Freunde, Aktuelles aus Novosibirsk (Norbert Schott)
Gedanken eines Europa-Verstehers
Erschienen im Kurier des Sächsischen Journalistenverbands
Als Europa-Versteher hat man es in Russland im Moment schwer. Aus russischer Sicht gibt es so gut wie keine Argumente, welche für die Unterstützung der aktuellen Regierung in Kiew sprechen. Diese Sicht ist nur sehr begrenzt der zweifelsohne armseligen russischen Propaganda geschuldet. Viele Russen sind ernsthaft an einer Erklärung der europäischen Position zum Thema Ukraine interessiert – gerade weil sie gegenüber der eigenen Presse skeptisch sind. Aber bekommt man entsprechende Fragen gestellt, so schwingt bei den Russen auch der Zweifel mit, ob es mit der Objektivität in Europas Presse wirklich besser gestellt ist.
Nur wenige Russen bezweifeln, dass Wiktor Janukowitschs Regierung korrupt und unbeliebt war. Aber die Fragestellung, ob dies einen Regierungsumsturz – in russischer Sprachweise Putsch – rechtfertigt, sollte demokratisch sozialisierte Europäer zum Nachdenken bringen. Auch ein nicht unterzeichneter EU-Assoziierungsvertrag hätte problemlos nach den regulären Wahlen im kommenden Jahr nachgeholt werden könnten.
Die deutsche Regierung unterstützte nach den – bis heute ungeklärten – Schüssen auf dem Maidan einen Vertrag zwischen Opposition und damaliger Regierung. Wie erklärt man als Deutscher einem Russen, dass die deutsche Kanzlerin kurz darauf Julia Timoschenko und Witali Klitschko als Vertreter der Opposition empfängt, ohne den eklatanten Bruch dieses eben dieses Vertrages in irgendeiner Weise zu kritisieren?
Als Europa-Versteher muss man auch erläutern, warum in Europa die Vergangenheit der neuen Regierungsparteien kaum thematisiert wird – immerhin besuchte eine Vertretung von Swoboda einst die sächsische NPD-Fraktion – oder über sonstige Verfehlungen der neuen Macht großzügig hinweggeschaut wird.
Wieso freuen sich alle Europa-Versteher über die Demokratisierung in Kiew, wenn ein Freund von Oligarchen durch einen echten Oligarchen ersetzt wurde?
Auch in Russland sind viele skeptisch gegenüber der Euphorie der Krim-Annektion – sei es wegen der Vorbildwirkung auf abtrünnige Teile der russischen Föderation, wegen des Image-Verlusts für Russland oder wegen der Milliarden Rubel, welche auf die Krim fließen anstelle in die Krankenhäuser und Polikliniken Sibiriens.
Aber an der Notwendigkeit zum Schutz der russischen Minderheit vor nationalistisch gesinnten Ukrainern zweifelt kein Russe. Selbst wenn man als Europäer noch überzeugen kann, dass ein Verbot der russischen Sprache auch in Kiew nie ernsthaft zur Debatte stand, so fällt es schwer zu erläutern, warum nach dem Tod etlicher prorussischer Demonstranten in Odessa durch ukrainische Brandstifter die prorussischen Überlebenden in Haft kamen und nicht der zündelnde Mob. Oder warum der von der neuen Regierung aus Kiew als Gouverneur eingesetzte Oligarch Igor Kolomojski offen ein Kopfgeld auf prorussisch gesinnte Mitbürger aussetzen darf.
Jeder pazifistisch denkende Mensch müsste hinterfragen, ob das Schicksal der Krim im Nachhinein nicht besser war als die aktuelle Situation in Donetsk und Lugansk. Es starben keine Menschen, es wurden keine Kinder traumatisiert, keine Häuser zerstört – es gab eine unblutige Volksabstimmung für eine bescheidene, aber stabile Zukunft. Kiew konnte dies 20 Jahre lang nicht garantieren, Moskau kann es.
Zweifelsohne, ohne russische Freiwillige und ohne finanzielle Unterstützung aus unbekannten Quellen wäre die Lage in Donetsk nicht eskaliert. Aber wer finanziert die proukrainischen Einheiten? War Kiew im März nicht vollkommen pleite? Vielen Russen ist die zweifelhafte Legitimität der (pro)russischen Verbände bewusst – aber auch die nationalistischen ukrainischen Freiwilligen verdanken ihren Einfluss einzig dem bis heute nicht durch Wahlen bestätigten Regierungswechsel.
Russland ist der Besatzer in Donetsk? Russen verweisen gern auf die Flüchtlingszahlen – drei Viertel der Flüchtlinge gehen nach Russland und nicht ins ukrainische Kernland.
Innerlich hoffe ich immer, dass das gute Bild, was die deutschen Medien von Kiew malen, und das schlechte Bild, was wir von Russland präsentiert bekommen, vielleicht doch stimmen. Aber leider ist die Realität vielschichtiger und es fällt mir in Russland zunehmend schwer, für die europäische Sichtweise zu argumentieren.
Ich würde ganz sicher nicht unter den prorussischen Gorillas in Donetsk leben wollen, aber ebenso nicht unter den Demagogen im Nadelstreifenanzug aus Kiew.
Zwei Völker mit einer gemeinsamen Identität sprechen plötzlich mit Waffen. Wer hat dies aus welchem Grund in die Köpfe gesetzt? Wieso sterben 3000 Menschen, werden Kinder traumatisiert? Was ist der wahre Grund?