Briefe an Freunde, Aktuelles aus Novosibirsk (Norbert Schott)

Sprachlosigkeit

27. August 2015

Vor einem reichlichen Jahr wollte ich eigentlich noch eine E-Mail zur Schwulenproblematik in Russland schreiben, dann verdarb mir die Weltpolitik gründlich das Interesse, noch tiefgehende Mails über meine zweite Heimat zu schreiben.

Auch nach über einem Jahr im Ukraine-Konflikt bin ich sprachlos. Sprachlos, wie ein kleines Land von zwei Seiten so manipuliert wird, dass man einen Krieg dem friedlichen Zusammenleben vorzieht. Franken gegen Bayern, Berliner gegen Schwaben, Alle gegen Sachsen - auch in Deutschland ist man sich nicht immer wohlgesonnen. Aber eine Basis für einen bewaffneten Konflikt würde (hoffentlich) niemand in diesen Sticheleien sehen.

In der Ukraine hätte ich es immer genauso eingeschätzt. Ich war 2003 und 2006 dort unterwegs. In Lwow (Westukraine) konnte man ein paar launische Bemerkungen dazu vernehmen, dass ich Russisch und nicht Ukrainisch spreche - aber als Sachse ist man so etwas aus Deutschland gewohnt. Und auf der Krim wurde gern über den zwanghaften Gebrauch der ukrainischen Sprache gelästert - wie die Sachsen noch heute gern über "die Wessis" lästern. Alles halb so wild.

Und nun plötzlich erklärt mir jeder zweite Russe, dass die Ukrainer die Russen noch nie leiden konnten. Dass ohne russische Hilfe vermutlich die Bevölkerung der Krim genauso bombardiert worden wäre wie jetzt Donetsk, mit finanzieller und logistischer Unterstützung der Amerikaner.

Und nun plötzlich erklärt uns jeder ukrainische Politiker, dass die Russen die Ukrainer schon immer erobern wollten. Dass ohne ukrainische Angriffe auf Donetsk die russische Armee schon bald wieder in Torgau an der Elbbrücke stehen würde.

Ein absurdes Schmierentheater der Weltpolitik auf dem Rücken eines wohl unumkehrbar geteilten Volkes, dass sich dieser Manipulation von zwei Seiten offensichtlich noch immer nicht bewusst ist.

Die ostukrainischen Flüchtlinge sind in Russland oder der Westukraine untergekommen und stören in Heidenau und Freital niemanden. Also verschwindet das Thema aus der deutschen Presse.

Aber noch immer schießen wildgewordene Möchtegern-Patrioten aufeinander, denen offensichtlich in den wilden 1990ern kein anderer Sinn für das post-sowjetische Leben vermittelt wurde. Noch immer schaut die OSZE-Mission hilflos zu. Der ukrainische Präsident kommt extra nach Europa, um den bösen Ivan auf dem Bildschirm zu halten. Und eben jener lässt beim Zoll Öfen aufstellen, damit der Begriff Schmelzkäse Wirklichkeit wird. Statt endlich wirklich miteinander zu reden, gießt jeder noch ein wenig Öl ins Feuer. Obwohl die Ukraine schon längst kein Geld für Öl mehr hat.

Beide Völker leiden unter den wirtschaftlichen Folgen des Konflikts - bei gleichbleibenden Löhnen haben sich die Preise in Russland wie auch in der Ukraine verdoppelt. Aber man ist stolz darauf, es den Russen / Ukrainern / Amerikanern (Zutreffendes bitte unterstreichen) gezeigt zu haben!

Hurra, wir haben Krieg!

Ich werde nicht müde, in Gesprächen immer wieder Brecht zu zitieren: "Stell Dir vor es ist Krieg und keiner geht hin." Leider auch in Europa noch immer nur eine Vorstellung.