Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Baikal

29. März 2003

Der Baikal liegt hinter uns, wir haben ihn auf dem Eis überqürt. 

Dabei sah es erst ganz ungünstig aus. Während der Fahrt mit der BAM - übrigens erst vor zwei Jahren endgültig fertiggestellt - mussten wir anschauen, wie der weiße Schnee zunehmend zu Schmelzwasser wurde. In Ekaterinburg am Ural - wo ich vorher eine ganze Woche war - lag noch Schnee, in Sewerobaikalsk kamen Jens und ich am Montag bei Sonnenschein und Frühlingswetter an. 

Sewerobaikalsk an der Nordspitze des Baikals - einst als eine von zwölf Millionenstädten entlang der BAM geplant, beherbergt heute 35.000 Seelen. Größtenteils Gestrandete des Eisenbahnbaus. Unser Taxifahrer beispielsweise kam für fünf Jahre in die Stadt - in der Heimat an der heutigen Grenze zur Ukraine erwartete ihn danach eine Wohnung und ein Auto. Inzwischen lebt er 18 Jahre am Baikal, die sozialistischen Versprechen gerieten unter die Räder der Perestroika. Immerhin ist es schön am baikal, "gute luft" - es hätte schlimmer kommen können. 

40 Kilometer südlich liegt Baikalskoje, ein kleines Fischerdorf. Wasser holt man hier noch an der Pumpe, das Plumpsklo steht Garten, immerhin brachte die BAM Strom ins Dorf. Im Laden vermittelte man uns eine alte Dame als Gastgeberin. Ihr Haus hat drei Zimmer, durch Vorhänge getrennt, in der Mitte steht ein mächtiger Ofen, in dem auch Brot gebacken wird. Stolz erzählte sie, dass ihr Mann das Haus vor 32 Jahren selbst gebaut hat - 9 mal 8 mal 3 Meter, ein Jahr dauerte der Bau. Sie wohnt seit 1965 im Dorf, damals kam sie, weil es hier eine Schule mit zehn Schuljahren für ihre Kinder gab. Eine Straße in das Dorf gab es nicht. Die Fahrt über den See dauerte in den Sechzigern noch fünf Tage. 

Wir wollten das ganze schneller schaffen. Am Hafen führte eine ausgefahrene Autospur auf das Eis. Ein Schild warnte seit Sonntag, dass das Befahren des Eises ab Montag verboten ist. Aber alle Dorfbewohner versicherten uns, dass das nix zu bedeuten hat - das Eis wäre dick. 

Tatsächlich kam ein Auto, welches uns für 13 Euro pro Nase nach Süden mitnahm. Sieben Stunden - wieviele Kilometer wissen wir nicht, denn der Tacho war kaputt. Genadi, der Fahrer, hatte Erfahrung. Wie oft er den See überqürt hat, konnte er nicht sagen. Die Antwort lautete stolz: "Ich lebe hier seit 20 Jahren!" Er lachte über die Lada-Fahrer, die wir mehrmals aus dem Schnee schieben mussten, weil sie sich besoffen auf's Eis wagten. 

Jens auf dem BaikalDas Eis des Baikals überziehen breite Risse und Aufwerfungen - natürlich längst wieder zugefroren. Links und rechts erheben sich riesige Berge, alle noch schneebedeckt. Der See ist 1.600 Meter tief, die Berge ragen über 1.400 Meter heraus, selbst auf den Inseln. 

Ab und zu sieht man Fischer, welche durch große Löcher mit Netzen Fische aus dem Baikal ziehen - mit blanken Händen planschen die harten Sibirier in der eisigen Brühe. Mitten auf dem See treffen wir auch ein paar holländische Radfahrer. 

Genadi erzählte viel über das Leben am Baikal. Früher war er jagen - als ich Frage, welche Tiere, antwortet er in dieser Reihenfolge: "Bären, Elche und Zobel". Heute lebe man von Fisch aus dem See. Eier liefern die sieben Hühner, es gibt auch einen Hahn, einen "besonders schönen", so Genadis Frau Galina. Gemüse erntet die beiden im Garten, im Wald gibt es Beeren - im Kellern lagerten Genadi und Galina 50 Liter Marmelade! Die Dorfläden braucht man nur für "Salz, Streichhölzer und Zucker", meinte Genadi. 

Im Gegensatz zum sonstigen Russland herrscht am Baikal nicht allein das Christentum vor. An allen Straßen gibt es regelmässig alte Schmanensteine. Genadi musste auf Galinas Anweisung mindestens eine Münze aus dem Fenster werfen, damit die Fahrt weiter glücklich verlief. Vor unserer Weiterreise nach Ulan Ude mussten wir ausserdem nach altem russischen Brauch drei Minuten ruhig über die Reise nachdenken - auch wenn wir dadurch fast den Bus verpasst hätten. Brauch ist Brauch. 

Ulan Ude liegt im Süden, an der Transsib. Hier leben die Buriaten, eine mongolische Minderheit. Nicht weit von der Stadt ist das religiöse Zentrum des Völkchens, eine Datsan (Kloster). Im Bus trafen wir einen Lama, er erzählte uns auf Englisch über die 500 Schüler des Klosters, über ihre Leidenschaft für Fußball, die Webseite der Datsan und das schlechte Karma in Russland. 

Inzwischen sind wir in Irkutsk, im Gegensatz zum recht grauen Ulan Ude eine angenehme, grüne, lebhafte Stadt. Es gibt sogar eine Fußgängerzone, in der ein Hippie zu russischen Liedern Gitarre spielt - gleichzeitig balanciert er mit einem Brett auf einer Holzrolle und klopft mit den Füssen zwei Trommeln ... 

Ab morgen bin ich wieder in Moskau, ich muss leider fliegen, da meine Registrierung ausläuft. 

P.S.: in Russland gibt es einen Aberglauben. Auf allen Straßenbahn- und Busfahrscheinen steht eine sechsstellige Ziffer. Wenn die Quersumme ersten drei Ziffern mit der Quersumme der letzten drei Ziffern übereinstimmt, handelt es sich um einen Glücksfahrschein. 783990 ist also ein Glücksfahrschein (7+8+3 ist gleich 9+9+0). 123004 ist kein Glücksfahrschein (1+2+3 ist nicht 4+0+0). Die Frage ist: wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, einen Glücksfahrschein zu kaufen? (Es ist davon auszugehen, dass die Ziffern auf den Fahrscheinen gleichverteilt sind.)