Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Ein schönes Land

25. März 2003

Die Ukraine ist wirklich ein schönes Land. Hier in Odessa gibt es Vieles, was ich in Russland vermisse. Straßen mit alten, prächtig verzierten Häusern, großen grünen Bäumen, Hinterhöfen und Straßencafes. Auch das Nachtleben scheint mehr als t.a.t.u. und Rammstein zu bieten - leider kann ich hier nur wenige Stunden tagsüber verbringen, denn ich muss weiter nach Moskau. Unterwegs gönne ich mir noch schnell Lwow und Kiew - damit wäre mein Visum voll ausgereizt. Meine zwei russischen Vorträge in Dnjepropetrowsk verliefen übrigens erfolgreich. 

Der Höhepunkt war jedoch ein anderer. Die Sowjets hatten anno dazumal die Idee, jede Millionenstadt mit einer Metro auszurüsten. Also wurde auch Dnepropetrovsk durchwühlt. 1982 fing man an, 1995 war das Geld alle. Sechs Stationen sind fertig, drei blieben im Anfangsstadium stecken. Offiziell ruhen die Arbeiten, dennoch gibt es auf der Baustelle noch sieben Angestellte. Hier und da schweißen oder betonieren sie ein wenig ... schwatzen ... oder zeigen dem deutschen Studenten die Anlage. 

Ich hatte also dreimal telefoniert, war hingefahren, hatte zwei Stunden umsonst gewartet, hatte später aus der Uni nochmal telefoniert, bin wieder hin, hatte nochmal gewartet ... Und schon bekam einen Bauhelm und Gummistiefel verpasst. In einem riesigen Metalleimer ging es 50 Meter in die Tiefe, dort hat man vor Jahren mal 14 Meter Tunnel gebaut. Im Moment ähnelt die Anlage eher einem großen Swimmingpool, das Wasser ist glasklar und schmeckt sogar. 20 Kubikmeter müssen auf dem winzigen Stück stündlich abgepumpt werden ... Das zeigt eigentlich, was für ein Irrsinn diese Metros sind. 

Jedenfalls träumt man noch immer von Geld, damit man sich zur nächsten Station durchsprengen kann. Diese wird übrigens auch ohne Computertechnik um maximal fünf Zentimeter (!) verfehlt. "Wir können halt rechnen." 

Ein etwas anderes Verkehrsmittel fand ich in Jewpatorija auf der Krim, die Schaffnerin in der Straßenbahn meinte zu mir: "Jaja, die Wagen haben wir uns nach dem Krieg bei euch geholt!" Scheinbar waren die Schienen zu schwer, jedenfalls hat es durchgängig nur zu einer spur gereicht. Signale gibt es auch nicht. Aber seit 70 Jahren fährt die 3 um die ecke, wenn die 1 vorbei ist. So einfach ist das. 

Ich hatte in der letzten Mail noch zwei Beispiele für russische Bürokratie vergessen. 

In Rostov wollte ich im Wohnheim übernachten. Ich habe also die Sekretärin gefragt, die hat den zweiten Prorektor gefragt, der hat den ersten gefragt. Der hatte nichts dagegen, also durfte der zweite Prorektor mit mir zum Direktor gehen, welcher einen Zettel ausstellte. Mit diesem konnte ich in der Buchhaltung einen Bezahlzettel abholen, mit welchem ich in der Kasse bezahlen durfte. Die Quittung wurde wiederum in der Buchhaltung unterschrieben und im Stempelamt gestempelt, dann durfte ich schon zum Wohnheim gehen und dort das Blättchen der Chefin zeigen, welche immerhin schon telefonisch über meine Ankunft benachrichtigt wurde. 

Am nächsten tag wurde es noch besser. Ich war beim ersten Prorektor und wollte zu meinem Lehrstuhl dazu musste ich aus dem Hauptgebäude in den Campus gehen. Obwohl ich da schon viermal vorher war, ließ man mich nicht mehr rein. Zurück zum Prorektor durfte ich auch nicht mehr, seine Zusage, dass ich passieren dürfe, wäre Blödsinn. Am Ende ließ sich der oberste Chef der Uni allen ernstes von dem popeligen Pförtner zu einer handschriftlichen Erklärung hinreissen, dass ich passieren dürfe. Diese wurde gestempelt und kopiert, ich musste ein Passbild abgeben und bekam einen Ausweis. Mit 30 Minuten Verspätung erreichte ich meinen Professor ... es war übrigens das einzige mal, dass ich den Ausweis genutzt habe. 

Mein Zug fährt! Noch schnell meine neuesten Erkenntnisse in der russischen Sprache: der боцман ("bozman") steuert auf den айсберг ("aisberg"). Schön, nicht?!