Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)
Fahrstuhlgeschichten II
Neue Fahrstuhlgeschichten aus Moskau ...
... inzwischen hat sich an der Fahrstuhlsituation im Wohnheim einiges geändert. Nummer eins geht noch immer nicht. Er steht mit offener Tür im sechzehnten. Bei Nummer zwei geht im ersten oftmals die Tür immer wieder auf, der Fahrstuhl fährt nicht los. Trick: Etagentaste so lange drücken, bis die Tür eine Sekunde zu ist. Bei Nummer drei wiederum bleibt die Tür oft ganz offen. Hier hilft dezentes Springen (im zwölften) beziehungsweise Tür Rütteln (im ersten). Außerdem vergisst der Fahrstuhl oft irgendwo unterwegs sein Ziel - er hält an und die Tür geht auf. Abhilfe: Taste neu drücken. Nummer vier hat seit wenigen Stunden wieder Licht. Schade, es war eigentlich auch kein Problem - etwa bei der zehnten hat es kurz gequietscht und man wusste, wo man war. Nummer fünf und sechs laufen nur sporadisch, letztmalig wurde Nummer sechs am Tag vor meiner Ankunft oben gesehen. Aber wie schon erwähnt, diese letzten drei Fahrstühle halten bei uns im zwölften sowieso nicht - man nimmt sie also nur wenn eins bis drei alle streiken.
Am Freitag haben heute neue Soldaten am Eingang bekommen. Plötzlich müssen wir wieder unsere Ausweise vorzeigen - das nervt. Eigentlich waren wir schon die "nemze" und kamen ohne weiteres durch. Interessant: hier wird man nicht rausgeschmissen sondern reingeholt. Punkt um eins kommen die Soldaten raus und sagen allen, die vorm haus stehen - meist zehn bis zwanzig Nachteulen -, dass nun Sperrstunde ist! Wenn man nicht hört, kommt die Kommandantin mit einer Trillerpfeife. Dann hören Alle.
Der Russischunterricht macht Fortschritte, mehr und mehr kann man sich wenigstens grundlegend artikulieren. Es reicht für Smalltalk vor dem Wohnheim, im Notfall gibt es noch einige Russen, die Englisch können. Scheinbar sind die Sprachlehrer hier ganz brauchbar - die Studenten können wesentlich besser Fremdsprachen, als andere Russen. Man hat uns gestern auch mal ein Deutschbuch gezeigt. Heftig!!! "Nennen sie Nachteile der Fortschreitenden Technologisierung!" Im Originaltext laberten sie dann irgendwas "Schattenseiten des technischen Entwicklungsprozesses im 20. Jahrhundert".
Apropos Technik. Wir haben hier ganz fantastische Nachttischlampen. Man fasst sie an - und schwupps, gehen sie an oder aus. Egal, wo man sie anfasst! Wir haben Studien betrieben: berührt man sie nur mit einem Metallgegenstand, passiert nix. Fasst man sie langsam an, ebenso nicht. Nimmt man sie in die Hand, kann man sie mit der anderen Hand anfassen und nix passiert. Stellt man sie aber auf sein Bein und fasst an, geschieht etwas. Richtig lustig wird es, wenn man die Lampe in der einen Hand hat: Fasst man mit der anderen jemanden an, geht die Lampe an / aus. In unserem Wissenstrieb haben wir die Lampe sogar aufgeschraubt: aber da ist nur ein kleines schwarzes Kästchen drin - wie diese Wundertechnik funktioniert, wissen wir also noch immer nicht.
Ach so, weil Anfragen kamen: Es ist tatsächlich etwas arg neblig hier. Zeitweise konnte man noch ganze 200 Meter sehen. Steht der wind günstig, kann man sogar rund einen Kilometer weit sehen. (Heute sogar noch weiter.) In den schlechten Zeiten ist es selbst in den Häusern neblig, das Atmen fällt schwer. Alles riecht verqualmt. Wirkliche Besserung ist nicht in Sicht, erst der Schnee im Winter wird die Torfbrände - teilweise 100 Kilometer entfernt - so richtig löschen.
Die erste Wohnheimsparty haben wir auch überstanden. Wir haben gesiegt ... als letztes waren die Deutschen übrig, trotz Wodka! Gegen halb sieben haben wir den Raum verlassen und das Radio (Disko über UKW) ausgemacht. Eine Tür war nicht mehr zu schließen, die hat die Nacht nicht überlebt.
Wir gehen jetzt an die Lomonossow-Universität. Dort hat man einen prima Blick über die Stadt - ein schöner Platz zum Vokabeln pauken!