Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Kalt

09. Oktober 2002

Es wird Winter. Draußen schneit es, seit zwei Wochen ist das Thermometer nicht mehr über fünf Grad geklettert. Noch bleibt der Schnee nicht liegen, aber das ist wohl nur noch eine Frage der Zeit. Ich habe jedenfalls vorgesorgt und mir einen dicken, langen Mantel gekauft. Sieht fast ein wenig zu edel aus, hält aber schön warm. 

Jens und Florian - die zwei Sprachschüler - haben den Absprung endlich geschafft. Beim ersten Versuch haben sie ihr Flugzeug verpasst. Die grüne Lampe an der Flugtafel blinkte noch munter, also wollten sie noch ein wenig Zeit mit ihren Freundinnen verbringen. Dummerweise wird 40 Minuten vor Abflug der Computer am Check-in runtergefahren - Jens und Florian waren drei Minuten zu spät. Und ein russischer Computer lässt sich scheinbar auch nicht mehr hochfahren. Jetzt sind sie mit vier Tagen Verspätung mit dem Zug zurückgefahren! 

Die Hoffnung, dass ich ihr Zimmer bekomme, wurde von Auslandsamt gleich begraben - es ist noch ein Kölner eingetroffen, der hier ebenfalls ein Praktikum machen wird. Die letzte Chance auf ein Einzelzimmer besteht darin, dass die Augsburger Mädels die Nase voll haben von Moskau und wahrscheinlich abreisen werden ... 

Am Wochenende war ich mit Siggi in Kasan - 700 Kilometer östlich. Wie immer haben uns irgendwelche Russinnen aufgegabelt und ihre Stadt gezeigt. Man schafft es wirklich nirgends, ein Wochenende ohne neue Freunde zu verbringen! Ist schon ein irres Land. Die stadt war besser intakt, als Moskau. Man merkt, dass Öl in der Nähe ist. 

Es gibt übrigens neue Erkenntnisse zu den Fahrstühlen: eine Freundin aus dem Wohnheim erzählte mir letztens, dass der Fahrstuhl nicht losfährt, wenn sie alleine drin steht. Sie wiegt unter 50 Kilo und das findet der Computer zu wenig! Der gleiche Computer mag auch die Zahl elf nicht - obwohl die rechten Fahrstühle nur auf ungeraden Etagen halten, gibt es dort stets eine zehnte Etage - kurz vor der 13. 

Vergangene Woche haben meine "Vorlesungen" begonnen. Mit klassischen Vorlesungen hat das allerdings nix zu tun - vorn tippelt der Dozent hin und her, betet Sätze runter und die Studenten müssen brav mitpinseln. Die einzige Interaktion ist, wenn er jemanden ermahnt, der nicht mitschreibt! Dennoch wird fleißig Musik gehört, Handys klingeln, Briefe wandern hin und her. Schule total. 

Derzeit fällt aber sowieso fast alles aus, weil die Studenten des zweiten und vierten Jahrganges eine Volkszählung machen müssen. Jeder hat bis Ende Oktober 400 bis 700 Wohnungen abzuklappern und zu fragen, wieviele Leute da wohnen. In der ganzen Stadt hängen Plakate, die diese fragliche Aktion preisen. 

Angesichts der vielen Freizeit habe ich mich vergangene Woche mal beim Spiegel (Zeitschrift, Montags, Deutschland) vorgestellt. War mächtig interessant, auch wenn meine Sprachkenntnisse im Moment noch nicht für ein Praktikum reichen. Ich soll mich im Dezember nochmal melden. 

Das lustige war aber der Anfahrtsweg. Man geht ja eigentlich davon aus, dass die 3. Хохошествого-Gasse ebenso wie die 1. Und die 2. Gasse von der Хохошествого-straße abgehen. Dem ist aber nicht so. Im Stadtplan ist sowieso nur die Straße eingezeichnet und im Grunde gehören auch alle Häuser im Umkreis von einem Kilometer irgendwie zu dieser Straße. Fragt man Fußgänger, bekommt man (a) gar keine oder (b) die falsche Antwort. Hat man denn endlich herausbekommen, das die 3. Gasse auf einem kurzen Abschnitt ganze hundert Meter entfernt parallel zur Straße läuft, darf man sich mit der Hausnummer beschäftigen. Die 3b ist rechts von der 3a, die 3c noch eins weiter ... Nur die 3d, die ist links von 3b! Alles in allem kostete mich diese suche zwei Stunden!