Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Letzter Monat

16. Juli 2003

Heute in einem Monat werde ich Russland schon verlassen haben. Keine Angst, ich werde Deutschland noch nicht unsicher machen, zuerst geht es nach England Sprachkurs. Mein Englisch soll wieder besser als mein Russisch werden. 

Die verbleibenden fünf Wochen nutze ich für Stress und Reisen. In den nächsten 20 Tagen muss ich meine Studienarbeit fertigstellen und möglichst noch ins Russische übersetzen, ferner eine weitere Übersetzung beenden, meine Russischlektionen sinnvoll abschließen, Freunde verabschieden und ... das Spannenste ... Ein Praktikum bei der "tageszeitung" (taz) machen. 

Dann fahre ich wieder Zug, dieses mal 63 Stunden in den Altai. Damit wäre ich dann bei 57.699 Kilometern in der GUS in den letzten zwölf Monaten. (Davon ein deutlicher Teil für meine Studienarbeit.) Im Altai hat meine Freundin aus Novosibirsk eine Kanutour organisiert ... das wird sicher spannend. 

Heute hat mich Russland wieder einmal zur Verzweiflung gebracht. Ich hatte für Ksenia in Novosibirsk einen Brief geschrieben und wollte eine CD beilegen. Ab zur Post, dachte ich mir. Das почтамт ("Potschtamt") nahe dem Roten Platz erschien mir groß genug für solch eine schwere Aufgabe. Natürlich wurde ich abgewiesen, denn ein Brief mit einer CD ist kein Brief mehr. 

So etwas kann in einer Zwölf-Millionen-Stadt nur ein einziges "Potschtamt" erledigen ... drei Metrostationen weiter. Erster Eingang, zweite Etage, Auskunftsbüro: die zwei Mädels waren zwar hübsch, hatten aber keine Ahnung: "Vielleicht im ersten Stock, vielleicht im dritten Eingang?" CD ... exotisch ... also bestimmt dritter Eingang. Das war richtig. 

Hier gab es nun lustige Schalter für "Verpackungen von Sendungen". Da muss ich aber nicht hin, denn Sendungen im Inland werden direkt am Schalter "Abgabe" verpackt ... Doch auch das war zu schnell ... Denn ich hatte die drei notwendigen Formulare noch nicht ausgefüllt. 

Im Grunde gefallen mir die Formulare, denn nun weiß der postbßote gleich von vorn herein, dass im brßief nur "CD, zwei Stück, je 15 Rubel - Gesamtwert 30 Rubel" sind. Er braucht nicht mehr nachschauen, was er aus dem Kuvert gebrauchen könnte. Ich habe dennoch Formular vier ausgefüllt - als Rache an die Brieföffner vom Dienst möchte ich einen Rückschein haben. 

Dann durfte ich endlich bezahlen - 35 Rubel (ein Euro). Die Frau hat alles ein zweites mal verpackt, mit Leim verklebt, mit Klebeband verklebt, mit Strick verschnürt, mit neuen Zetteln versehen, und sicherheitshalber noch einmal mit Folie verschweißt ... fertig. 

So verbringt man zwei Stunden in Moskau. 

Nicht viel einfacher hatte es Siegfried (mein früherer Mitbewohner in Moskau), als er kürzlich einen Expressbrief nach Deutschland schicken wollte. Er fragte in mehreren Firmen an ... 1000 Rubel für einen Brief waren aber nicht akzeptabel. Am zweiten Tag fand er eine firma mit einem interessanten Angebot: Fünf Tage Laufzeit, Kostenpunkt 90 Rubel. Auf Nachfrage, wie das denn gehe, erläuterte man ihm: wir fahren morgen nach Finnland (100 Kilometer), kaufen finnische Briefmarken und werfen die Sendungen in den Briefkasten. 

Ich wollte vergangene Woche ein ganzes Päckchen nach Deutschland schicken, und hatte mir dafür wieder einen anderen Weg gesucht. Täglich fahren drei Schlafwagen von Moskau nach Köln ... Ich bat die Schaffner um einen Gefallen. In extra verdunkelten Abteil musste ich über den Preis verhandeln, am Ende stimmte ich im dritten Wagen frustriert zu: 350 Rubel. 

Das ist teuer, als ich vor drei Wochen in Omsk und Novosibirsk auf Kurzbesuch war, konnte ich meinen Pass nicht mitnehmen. Er lag in einem Moskauer Amt, Vasko (mein jetziger Mitbewohner) musste ihn mir nachschicken. Bei den Schaffnerinnen zahlte er 50 Rubel für die knapp 3000 Kilometer. (Man hat mir das Päckchen auf dem Omsker Bahnsteig auch wirklich übergegeben.) Und mein riesiger Rucksack kostete im Winter in umgekehrter Richtung 150 Rubel. 

Apropos Amt: Ich hoffe, dass ich nun mit meinem Ausreisevisum den letzten Behördenstress hatte. Dass Deutschlands Bürokratie ein Segen ist, zeigt allein die Menge der Passfotos, die ich im letzten Jahr benötigt habe: Für meine Aufenthaltsgenehmigung und die vier Verlängerungen brauchte ich fünf Fotos, die etlichen Bestätigungen, dass mein Pass in einem Amt liegt kosteten sechs Fotos. Ich hatte einen vorrübergehenden Studentenausweis und einen richtigen - zwei Fotos. Für die Metrokarte benötigt man zwei Fotos, bei Verlust noch mal zwei. Im Wohnheim brauchte ich einen Ausweis, nach meinem Omsk-Aufenthalt einen neuen. Ferner werden in einem Buch Fotos aller Bewohner eingeklebt - also kostete mich meine Bleibe drei Fotos. Für meine Umsiedlung nach Omsk gingen zwei Fotos drauf, umgekehrt übrigens keines. Das Ausreisvisum in die Ukraine bekam ich für drei Fotos, das Einreisevisum für zwei. Verlasse ich nun Russland, sind es wieder zwei. Auch für solche Aktionen liegt der Pass im Amt und man bekommt Bestätigungen - wenn man drei Fotos opfert. Bei meinen Besuchen in verschiedenen Unis wurden mir Ausweise für den Eingang ausgestellt - drei Fotos. Zusammen 35 Passfotos! 

Das alles wird natürlich besser, wenn Schirinowski an die Macht kommt! Vergangene Woche kam ich in das Vergnügen, seine Radiosendung zu hören. Das Volk darf anrufen und er hilft. Er weiß für jedes Problem eine Telefonnummer ... meistens die seiner Partei, welche sich übrigens "Liberale Partei, Partei Schirinowkis" nennt. Und er hat auch immer eine Lösung parat. "Ich habe kein Geld, keine Arbeit!" Seine Antwort: "Ich weiß, was sie tun müssen, suchen sie sich eine Arbeit!" 

Welches Klientel er anspricht, zeigt seine Autobiografie, deren Kurzfassung ich letztens entdeckte: "Ich war das sechste Kind im gesunden Körper meiner Mutter, dessen Gebährmechanismus durch meine Vorgänger, drei Schwestern und zwei Brüder, gut eingespielt war. Obwohl meine Mutter halb verhungert war, war ich doch ein kräftiger Bursche und bahnte mir selbst meine Weg in diese Welt." Er wusste sich schon immer durchzusetzen! 

Übrigens hat Schirinowski schon vor langem in weiser Voraussicht seinen Namen ändern lassen, der Vater des rechten Polemikers war Jude. 

Womit wir beim Thema Namen in Russland wären. Sehr kreativ kann man das Land nicht bezeichnen – beim vorstellen kann man eigentlich gleich fragen: "Natascha?" Nun gut, es kommt auch Ksenia, Anna, Olga, Jekaterina, Tatjana und Oksana vor, aber dann wird es schon eng. Schön finde ich persönlich Nadjeschda, Wera und Ljubow – Hoffnung, Glaube und Liebe. Katja heißt übrigens niemand, das ist nur eine Jekaterina, welche man besonders mag. Lustig wird dies bei Alexander. Ihn darf man ohne Nachfrage Sascha, Sanja, Schura, Saschenka, Saschetschka, San oder Sanjok rufen. 

Während der Familienname weitgehend unbedeutend ist, redet man sich in Russland mit Vornamen und Vatersnamen an. Mich müsste man also "Norbert Wolfgangowitsch" rufen ... da sich die russische Zunge aber schon bei "Norbert" verknotet, belässt man es dabei. 

Nun die Frage: Warum hat man noch nie eine zweiten Vornamen bei Putin gehört? Ganz einfach, Wladimirs Papa hiess auch Wladimir, somit ruft man Putin "Wladimir Wladimirovitsch". 

P.S.: Den Englischen Hooligan gibt es auch im Russischen, Vandalen sind allgemein хулиганы ("chuligany"). Es gibt sogar ein entsprechendes verb: хулигать ("chuligat'"). Dieses drückt den Zerstörungsprozess aus. Geht es um die abgeschlossene Tätigkeit "ein wenig hooliganieren" muss man den vollendeten Aspekt nutzen: похулигать ("pochuligat'").