Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)
Minus zehn Grad und Schnee
"Wie jetzt - die Ärzte wissen nicht, welches Gas im Musicaltheater benutzt wurde? Natürlich wissen sie es!" Während deutsche Medien tagelang nur dieses eine Thema kannten - warum nennt der Kreml nicht das verwendete Gas -, haben wir nicht einen Russen getroffen, der sich dieser Problematik bewusst war! Selbst unsere Lehrerinnen und eine unserer politisch interessierten Freundinnen waren diesbezüglich ahnungslos. Medienfreiheit in Russland?
Weiteres Nachbohren führte irgendwann selbst bei diesen schon hoch einzustufenden Leuten zum Achselzucken: "Ach eigentlich interessiert es mich auch garnicht so, was die Politiker machen. Die werden es schon richten."
Und so kann Putin walten und schalten, wie es ihm beliebt. Das Volk mag seinen festen Willen, seine starke Hand. Und dass er gleich noch ein paar Relikte aus alten Zeiten reaktiviert - und sei es das wiedererrichten abgebauter Denkmäler alter KGB-Größen - wird stillschweigend geduldet, wenn nicht gar gutgeheißen.
Auch der 7. November, der Tag der großen sozialistischen Oktoberrevolution, ist beispielsweise weiterhin ein Feiertag. Wenn auch mit einem schicken neuen Namen: "Tag der Eintracht und Versöhnung". Von den alten Militärparaden sind jedoch allenfalls die Alten übriggeblieben - ein Häuflein verrückter Rentner, die ihre Sowjetfahnen vor den bunten Prada-Werbetafeln im Stadtzentrum schwenken.
Modernes Russland? Auf der Straßenbahnlinie vor dem Wohnheim fahren vier Bahnen. Bei Stau kommt es vor, dass sie sich plötzlich alle an einer Stelle sammeln. Deutsche Bahnfahrer würden spontan an der Endstation so lange warten, dass sich wieder regelmässige Abstände zwischen den Bahnen ergeben. In Moskau dagegen werden den restlichen Tag jeweils vier Bahnen hintereinander kommen und dann eine Stunde lang keine einzige. Es ist halt kein Chef greifbar, den man um Erlaubnis bitten könnte, etwas zu warten. Wie früher halt!
Zehn Jahre nach der Perestroika bewegt sich Mütterchen Russland also weiterhin irgendwo zwischen Chaos, Totalitarismus, Imperialismus und Sozialismus. Jedem Volk das Seine, Russen hängen halt noch immer Bilder von Putin in ihre büros.
Dennoch verblasst der alte Stolz immer mehr. Vergangene Woche waren wir auf der ehemaligen ständigen Ausstellung der sozialistischen Sowjetrepubliken in Moskau, kurz ВДНХ. Früher zeigte das Land hier stolz seine Errungenschaften in Technik und Wissenschaft. Doch wo einst russische Radiotechnik präsentiert wurde, kann man heute billige, asiatische Elektronik einkaufen. Im Kunstsalon nebenan werden kitschige Aquarelle und Bierkrüge verhökert. Im Zentralpavillon gibt es Bonsaibäumchen aus Kunststoff und Mini-Springbrunnen.
Auch anderswo das gleiche Bild. Am Wochenende war ich in Uljanowsk - der Geburtsstadt Lenins. Selbst im dortigen Lenin-Gedenk-Zentrum (!!) gibt es nun billige Gold-Imitate für die Gattin käuflich zu erwerben.
Eine vollkommen andere Geschichte, aber dennoch erwähnenswert: eines muss ich diesem Volk zugute halten: jeder kennt Dresden, jeder weiss, dass in der Gemäldegalerie die Sixtinische Madonna hängt - das habe ich bei keinem anderen Volk Europas bisher erlebt.
Und noch etwas wunderbares an diesem Volk. [Auf vielfachen Wunsch nehme ich mir dieses Themas nun einmal an.] Es ist das Volk mit den wahrscheinlich meisten hübschen Töchtern! Es ist einfach unglaublich: man geht ins Theater und kommt schon vor der Vorführung aus dem Staunen nicht mehr heraus - allein wenn man sich das Publikum anschaut. Und wenn man in eine Disco geht wird es noch viel schlimmer. Als Hersteller brauchfreier T-Shirts muss man hier reich werden - so viele schöne Bäuche habe ich noch nirgends gesehen.
Wo das Geheimnis nun genau liegt, weiß ich nicht. Die Schminke ist es nicht, die ist eher zu übertrieben. Am netten Lächeln - welches man in dieser Form in Deutschland nicht findet?! Oder einfach nur, weil in jedem Haus am Ausgang ein Spiegel hängt, in dem sich die Mädels extra nochmal hübsch machen können? Oder einfach weil die Studentinnen - die wir nun meistens bewundern dürfen - mit ihren nur 18 bis 19 jahren noch recht jung sind?!
Witzig ist jedenfalls so ein typischer Flirt in der Uni oder dem Wohnheim. Ein wenig wie früher in der Schule. Man sieht sich und unterhält sich. Dann lädt man sich zum Spazierengehen ein. Dann geht man mal aufs Dach oder in die Bar. Dort darf man dann langsam etwas näher rücken - wohlgemerkt wird die Initiative stets dem Jungen überlassen! Die russische Frau will erobert werden.
Der krasse Gegensatz dazu sind die Clubs und Discos. Ehe man sich dort versieht, wird man schon angelächelt, angetanzt, angemacht. Auf der Bühne ziehen sich auch schnell mal irgendwelche leute bei Gesellschaftsspielchen halb aus.
Noch ein paar nette Wörter der Woche, alles russischer Wortschatz: Schlagbaum, Wunderkind, Landschaft, Zifferblatt, Kurort, Burgermister. Wohlgemerkt kennt kein Russe die Worte Baum, Wunder, Land, Blatt, Ort oder Burger!