Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Neue Erfahrungen

02. März 2003

Ich war wieder einmal bei der Polizei. Zur Abwechslung nicht als Scheinschuldiger, sondern dieses mal um das russische Rechtssystem auf die Probe zu stellen. Der Fahrer eines Sammeltaxis musste mir seine Unzufriedenheit über seine eigenen Rechenfehler unbedingt mit einem Schlag auf die Unterlippe bekunden - jetzt habe ich einen schiefen Mund und er eine Anzeige am Hals. Die muss man hier übrigens per Hand schreiben - den Tathergang schreibt der Polizist per hand. Meine Zeugin musste umgehend antanzen - halbe Sachen gibt es also nicht. Mal sehen, was nun herauskommt. 

Ansonsten ist Omsk ein schönes Erlebnis. Ich hatte in der ersten Woche noch Langeweile - dann bin ich zum Goethe-Institut gewandert. Inzwischen bin ich dort Filmvorführer, "echter Deutscher" im Russischunterricht, Layouter für die Jugendzeitung und und und. Die Zahl der Einladungen steigt - die letzten zwei Wochen in Omsk bin ich wahrscheinlich schon voll von der Gastfreundschaft der russischen Seele ausgebucht. 

Neben der russischen Seele erfreut mich hier natürlich auch die Nordkoreanische - ein echtes Erlebnis. Die 20 Männer werden mir immer mehr zum Rätsel. Jeden tag Punkt Sieben springt der Kassettenrekorder an - so laut, dass die verrückten selbst auf dem Klo schon lernen können. Egal, wann ich vorbeikomme, die Koreaner sind stets am Lernen! Pausen zum Essen sind erlaubt, allerdings ist das Essen rationiert. (Als ihre Russischlehrerinnen aus Mitleid Geld sammelten und Konserven kauften gab es wohl einen riesigen Aufstand von staatlicher Seite!) Spaß? Naja, Sonntags spielt man zwei Stunden Fussball, abends quasselt man mal eine Stunde. Um danach wieder zu lernen. 

Die Koreaner treten stets im Doppelpack auf, um sich gegenseitig zu kontrollieren. Die Kleidung war anfangs auch noch vollkommen identisch - sehr zur Freude der Russen. Das störte jedoch nicht, denn Interesse an Russen scheint nicht erwünscht. Jedenfalls sieht man auf unserer Etage nie Gäste. Kultur lehnen sie ebenso ab, pflichtgemäss waren sie (von der Uni organisiert) im Theater und Konzert - um danach zu bekunden, dass es ihnen nicht gefallen hat. 

Die eigene Kultur beschränkt sich auf Bücher und Lieder über Kim Jong Il - den verstorbenen Präsidenten auf Ewigkeit. In jedem Zimmer hängen drei Bilder - er selbst, sein Sohn und beide gemeinsam. Das Liederbuch - mit russischer Übersetzung (!) - enthält fünf Heimatlieder und 39 Propagandalieder. Selbst das unscheinbare "Schneeflöckchen" entpuppt sich im Verlauf des Liedes als ein Kampfgenosse am Fenster des Zentralkommittes der Partei! (Im Anhang der Text, ich konnte diskret Kopien machen.) 

Und noch eine Kultur habe ich heute betrachtet: Die Deutsche – im deutschen Bezirk Asowo, hier um die Ecke. Mitten in der platten Birkensteppe leben einige tausend Deutsche – hübsch priveligiert, denn der deutsche Staat hat ihnen, und nur ihnen, hässliche Häuser gebaut. Sieht aus wie eine deutsche Reihenhaus-Siedlung, mitten zwischen den russischen Holzhäusern. Die Russen finden das natürlich schon komisch – in dem Ort herrschte echt eine eigenartige Stimmung. 

Vergangene Woche war ich Skifahren in einem Ausläufer des Altaigebirges - Gornaja Schoria. Ab Novosibirsk fährt jedes Wochenende ein Touristenzug in die Berge - mitten im Wald hält er an. In der Nähe sind ein paar Skilifte - übrigens teurer als in Tschechien! Schlafen darf man im Zug, als Betthupferl gibt es eine Disco im Freien, mitten im asiatischen Wald bei minus 20 Grad. Als Abschlusslied kam Rammstein. Ein riesiges Lagerfeuer ist nebenan, Feuerwerk gibt es auch, und selbst eine Banja (russische Sauna) steht in Zeltform irgendwo zwischen den Bäumen. Einziger Wehrmutstropfen waren die ewigen Schlangen am Lift - aber die Fahrten durch echten Tiefschnee und über nahezu leere Pisten machen das fast wett! 

Letztens habe ich übrigens meine absolvierten Kilometer in Russland durchgezählt - und bin auf rund 36.000 gekommen! Nach meiner geplanten Fahrt zum Baikalsee am Monatsende habe ich also die Weltumrundung rein. 

Und es geht noch weiter: Moskau hat mir gestern eine zusage für die Zeit ab 15. März geschickt - das war bislang noch immer offen. Jetzt kann ich die Zukunft hier also gelassen angehen - bis zum Sommer darf ich weiter die russische Seele studieren. 

Und da gibt es noch viel zu erfahren! 

P.S.: Worte der Woche - lang nicht mehr gehabt. Die Russen habe lustige Wörter, die es im deutschen überhaupt nicht gibt. Da wäre zum Beispiel "сутки" ("24 stunden" oder "einen tag und eine nacht"). Oder "наиграться" ("sich satt gespielt haben"). Auch "никак" ("auf gar keine weise") ist interessant. Im Gegenzug gibt es dafür keine "Geschwister". Und "Wandern" - das macht in Russland eh keiner, also gibt es auch kein Wort dafür! 

P.P.S.: Kim Jong Il ist der derzeitige Häuptling, mit der komischen Brille und den hochgeföhnten Haaren. Sein Vater, Kim Il Sung, ist der verstorbene "große Führer". 

[Nordkoreanisches Lied] 

Schneeflocke, übergebe dich! 

Schneeflocke, du fällst in der Stille vom nächtlichen Himmel.
Dir ist bekannt, wohin ich von ganzer Seele strebe
Zum Zentrum der Partei, unserer guten, wo in den Fenstern die Flamme leuchet. 
Damit die Nacht vergeht, übergebe dich, und damit das trübe Licht des Mondes verblasst. 

Schneeflocke, du fällst in der Stille vom nächtlichen Himmel. 
Du fielst auch in jener Nacht auf die geheime Basis in der Einöde. 
Wiegenlieder, von der lieben Mutter gesungen in jenen Tagen, 
Greifst du, Schneeflocke, am Fenster des Zentralkomitees sacht und zärtlich an. 

Schneeflocke, du fällst in der Stille vom nächtlichen Himmel. 
Du bedeckst den kalten Wind, Flocke, beeile dich. 
Unser liebes Zentrum der Partei sinniert tief über alle Dinge, 
Gib ihm, zart bedeckend als Vorhang des Fensters, diese Nacht, diese Nacht zum erholen.