Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)
Neue Fahrstuhlgeschichten
Nach langer langer Pause endlich wieder ein paar Erzählungen von den Fahrstühlen. Derzeit fahren wirklich alle sechs! Aber ...
... Bei Nummer drei und vier funktionieren die Tasten auf den Etagen nicht! Stehen sie gerade dort, wo man ist, hat man Glück und kann sie nehmen. Rufen geht aber nicht.
... In der achten Etage gehen gar keine Tasten, schon seit einem Jahr laufen die Leute in die Siebte. Dort sind die Tasten seit einem Monat defekt, nun laufen alle in die Sechste. Die Leute aus der Dreizehnten kommen in die Zwölf, alle aus der Elf tippeln in die Zehn.
... In Lift Nummer sechs ist die Taste für die erste Etage defekt. Man muss die zwei drücken und die Elektronik kurz nach der Dritten mit der Notfalltaste zum Absturz bringen, dann rutscht der Lift in die Erste durch.
... Lift Nummer eins akzeptiert Tastendrücke nur, wenn mindestens 65 Kilo im Lift stehen. Das schaffe ich nicht. Man kann einsteigen und warten, bis der Lift von einer anderen Etage gerufen wird. Dann ist man zu zweit und es klappt. Aber oft wartet man ewig. Springen und gleichzeitig drücken funktioniert manchmal - macht aber im zwölften Stock nicht wirklich Spaß. Gestern hat mir ein anderes Leichtgewicht einen neuen Trick verraten: sich mit einer Hand an der Decke abdrücken (der Lift denkt, man wiegt mehr) und mit der anderen die Tasten bedienen ...
Heute Abend fahre ich in den Süden. Zuerst geniesse ich ein wenig den Strand in Sochi und Jalta (Krim), dann besuche ich eine Konferenz in Dnjepropetrowsk. Bei der Besorgung des Visas bin ich wieder einmal an der Bürokratie verzweifelt. Die Ukrainer geben mir ein Einreisevisum, wenn ich ein russisches Ausreisevisum vorweise. Das geben mir die Moskauer Behörden, wenn mein Rektor einverstanden ist. Dieser möchte dafür die Unterschrift meines Professors, ferner einen Brief von mir, die Unterschrift vom Auslandsamt und eine offizielle Einladung aus der Ukraine. Ferner muss ich zwei Quittungen bei den Moskauer Behörden vorweisen. Eine bekomme ich in der Kasse der Uni, wenn ich vorher in der Buchhaltung den Zettel aus dem linguistischen Institut (?) abgegeben habe. Die zweite muss ich mit einem Zettel aus dem Visa-Büro der Uni in der nächsten Sparkasse ergattern. Bei den Ukrainern darf ich direkt bezahlen, für 85 Dollar (!!!) wird man dort sogar freundlich. Nun habe ich ein Visum und bin deutlich ärmer.
Die Anderen, die vor der Botschaft standen, waren wohl schon vorher arm. An der Tür hängen listen mit 1612 Namen, davor stehen ungefähr zehn Prozent dieser Menschen, wartend auf ihren ukrainischen Pass. Sie schimpfen und drängeln. Ab und zu geht die Tür auf, weil so ein putziger Deutscher ohne anstehen ein Visum bekommt. Meist versuchen dann zwei Ukrainer mit in den Vorraum zu schlüpfen - die zweite Tür öffnet sich aber erst, wenn die Ukrainer wieder draussen sind. Und so warten sie und warten sie ... Selbst wenn die Wache sagt, dass heute nichts mehr passiert, geht keiner. Man steht doch sowieso schon seit gestern Nachmittag an ...
Die letzten Wochen in Moskau waren ansonsten recht lustig, wir waren viel rund um Moskau unterwegs. Meist haben wir die Vorortzüge genutzt, ein wirklich lustiges unterfangen. Der Zug rattert los, es kommt eine Ansage: "Bitte kaufen sie nichts bei den Händlern." Und schon kommt der Erste, "Liebe Fahrgäste, ich wünsche ihnen eine angenehme Fahrt. Beachten sie: heute im Sonderangebot, weiße Tischdecken mit und ohne Muster, handgearbeitet zum einmaligen Sonderpreis von 20 Rubel, drei Tischdecken für 50 Rubel. Ferner, liebe Fahrgäste, biete ich ihnen heute Taschentücher ..."
Ich habe letztens mitgeschrieben, was es alles so tolles auf einer 45-minütigen Fahrt gab: (1) Stofftaschentücher und Tischdecken, (2) Wecker und Flicken für Klamotten, (2) Haushaltshandschuhe, Stifte, Klebeband, Klammern, Wattetupfer, Papiertaschentücher, Uhren und Leim, (3) Hüllen für Pässe, (4) Kinderbücher "Die Geschichte Moskaus", (5) Lederpflege für braune und schwarze Schuhe, (6) Schuhkleister, (7) Aufkleber für Ostereier, (8) Taschenlampen und Geldscheinprüfer, (9) Heilmittel gegen alle erdenklichen Leiden, (10) Kassetten, (11) Ein Herr der nur warme Worte bietet und dennoch Geld braucht, (12) Abwaschlappen, (13) Lappen allgemein, (14) ein paar nette Musiker wollen auch Almosen, (15) Mittel gegen Motten
Auf der Rückfahrt dann: (1) Frauenzeitschriften, acht Wochen alt, aber günstig, (2) Putztücher, (3) Stifte, (4) noch ein Bettler ohne spezielle Angebote, (5) Eis, (6) Sonnenbrillen, (7) zwei Ratgeberbücher, (8) Pflaster und nochmals alte Frauenzeitschriften, (9) Strumpfhosen, braun, (10) Zeitungen, (11) wieder Zeitschriften, diesmal für Männer, (12) die üblichen Musiker, (13) praktische Schraubenzieher mit auswechselbaren Spitzen, Teleskopantenne und Magnetspitze
Bei Letzterem habe ich dann zugegriffen, 100 Rubel (3 Euro), leider haben sich schon zwei der auswechselbaren Spitzen beim ersten Gebrauch verbogen.
Mein Matroschka-Rätsel haben übrigens nur zwei Leute gelöst! Ungefähr fünf Prozent aller Fahrscheine sind Glücksfahrscheine - das wussten die Lehrer vom Gymnasium Dresden-Cotta sowie Andreas Abel aus Dresden. Andreas' Theorie zu dem Glücksfahrschein-Problem: Also ich wusste, dass sich das Verhalten [der Quersummen] an der Neun und der 18 signifikant ändern muss, d.h., dass der Verlauf sozusagen aus drei Stücken besteht. Dass es Parabeln sein müssen, vermutete ich auch aus der Erfahrung heraus - wenn man zwei Gleichverteilungen faltet, dann kommt eine Verteilung heraus, die aus zwei Geradenstücken besteht (was dachförmiges), bei drei Verteilungen dann die drei Parabeln, usw. Die Quersumme von vier Zahlen hätte vier Segmente, die jeweils kubisch verlaufen - soweit meine theorie :).
Grüße aus dem noch immer grauen Moskau! Immerhin bekommen die Bäume seit gestern langsam Blätter!
Falschgeld ist übrigens im russischen фальшивые деньги ("falschewye djengi").