Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)
Russische Mentalitäten
Was gibt es Neues?! Nachdem es vergangene Woche mit fünf Grad richtig warm war, ist nun der Winter wieder eingezogen. Minus sieben - am ersten Tag frieren einem die Ohren ab, am zweiten wird man hart und sagt sich: es wird ja noch schlimmer, also hab dich nicht so!
Und im Winter ist es nicht nur kalt, sondern auch früher dunkel. Das bedeutet Spaß im Wohnheim. Die Küchen sind noch immer geschlossen. Die Sanierung ist ja de facto schon seit zwei Monaten abgeschlossen, dennoch bleibt uns der Zutritt in die nun edlen Räume verwehrt. Denn - so die offizielle Begründung - man hat noch keine Waschbecken besorgen können! Also werden es von Tag zu Tag mehr private Kochplatten in den Zimmern. Die Folge: 19 Uhr will alle Welt kochen, also fliegt die Sicherung. Wir zünden die kerzen an, auf dem Gang (anderer Stromkreis, also Licht!) machen es sich die vietnamesischen Familien aus der Nachbarschaft gemütlich. Eine halbe Stunde später gibt es dann nochmals kurz Strom, woraufhin alle von neuem kochen wollen - bis die Sicherung wieder fliegt. So geht das bei halb neun, dann gibt wahrscheinlich die Hälfte der Bewohner entnervt auf und verschwindet hungrig im Bett.
Auch sonst bereitet uns das Wohnheim weiter Spaß. Noch immer gehen die Fahrstühle ständig kaputt, ich habe im Geiste inzwischen die Halbwertszeit ermittelt: einen Tag. Das bedeutet: Wenn unsere sechs Fahrstühle am Montag repariert werden, gehen am Dienstag noch drei. Problematisch wird es am Wochenende, denn der Monteur kommt nie Samstags oder Sonntags. Wenn sich täglich die Zahl der Fahrstühle halbiert - ich gehe mal von einer typischen Zerfallskurve aus - bedeutet das, dass Montag morgens noch 0,75 Fahrstühle funktionieren. Die Theorie hat sich in den letzten drei Wochen bestätigt, 0,75 bedeutete beispielsweise vorgestern: ein Fahrstuhl funktionierte noch, aber er vergaß ab und zu sein Ziel und blieb stehen.
Ansonsten fängt man pünktlich zum Beginn der Frostperiode mit dem Streichen an. Das scheint unlogisch, passt aber zu der Tatsache, dass man die zu streichenden Stellen auch nicht reinigt. Die Farbe landet also direkt auf dem Dreck und friert an, statt zu trocknen. Das sichert aber immerhin Arbeitsplätze, der Malermeister kann sich sicher sein, auch im nächsten Jahr noch gebraucht zu werden.
Was mir in den letzten Wochen auch noch auffiel, ist die russische Kunst der Absperrung. Da erfindet also ein Architekt einen wunderschönen Konzertsaal oder eine gläserne Bank mit vielen Türen. Und was machen die Deppen: schließen Alles ab und kleben auf die schicken Glastüren hässliche Pfeile, die zum letzten verbliebenen Eingang weisen. Vor diesem werden dann noch ein paar hässliche Geländer aufgestellt, die den Umweg möglichst nochmals vergrößern.
Perfektioniert wird dies an Baustellen: Wir standen letztens vor einem Kino, dessen Vordereingang gebaut wurde. Ausweichvariante war der Eingang an der rechten flanke des Hauses. Diesem konnte man sich auf direktem Wege zwar bis auf fünf Meter nähern, dann stand aber eine Absperrung im Weg - die Baustelle reichte genau bis zum Durchgang. Bauarbeiter achteten penibel darauf, dass man sich auch ja nicht durchmogelte. Also: einmal links um das ganze Kino drum herum, an bestimmt fünf geschlossenen Türen vorbei, um wieder an der gleichen Absperrung zu stehen - nur auf der richtigen Seite.
Steht in Deutschland ein Zaun vor dem Kino, jagt man die Betreiber zum Teufel - hier zuckt man mit den schultern und läuft. Und dementsprechend ist auch das Verhalten von Verkäufern! Ich frage im Laden nach: "Kann man diese schicke Russland-Fahne dort kaufen?" Antwort: "Nein, diese Fahne kann man nicht kaufen." Dass es im gleichen Geschäft andere Fahnen gibt, wird einem nicht verraten. Umsatzsteigerung durch freundliche Auskünfte?
Und so geht es überall. Nehmen wir einen Bahnhof, heute Abend werde ich Tickets nach Petersburg kaufen. Also werde ich mich rund 40 Minuten anstellen und fragen, ob es in Zug x noch freie Plätze in Kategorie a gibt. Die Antwort wird "nein" sein. Keine Auskunft zu Zug y, keine Auskunft zur Kategorie b. Stück für stück habe ich selbst nachzufragen, mehr als fünf Fragen sind die Damen aber selten gewillt, zu beantworten. Dann muss man sich woanders neu anstellen.
Der krasse Gegensatz dann das Leben im Zug. Ob im lauschigen 4er-Abteil oder im wilden 52-Betten-Wagen (ohne Türen), alle werden zur großen Familie, sobald der Zug anruckt. Als erstes wird die Jogginghose angezogen, es folgen die Pantoffeln. Dann wird die Lebensgeschichte erfragt: Name, wohin, warum, Beruf, Freundin? Als junger alleinreisender Student männlichen Geschlechts weckt man meist auch noch die Mutterinstinkte der anwesenden Frauen - bei allen drei Zugfahrten meiner letzten Reise wurde ich mit Essen ohne Ende abgefüllt. Ei, Huhn, Tee, Brot, Wurst, Orangen, ... Widerspruch zwecklos.
Zum Glück sitzt man länger im Zug, als man am Bahnhofsschalter steht. Und das macht das Land so lebenswert!