Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Sonnenschein und weite Sicht

12. September 2002

Hier in Moskau scheint die Sonne und man kann kilometerweit blicken! Die deutschen Medien erzählen Euch das Schwarze vom Himmel! Kann sein, dass es hier keine Gasmasken gibt ... wahrscheinlich aber, weil noch nie welche im Angebot waren! Bislang hat ein Einziger von uns zehn Deutschen zwei Japaner mit Gasmasken entdecken können! Alles halb so wild! 

Jedenfalls ist es gestern etwas kälter geworden ... statt mit T-Shirt rennen jetzt alle mit Herbstjacken durch die Gegend. Nach ein wenig Regen ist nun wie gesagt Sonnenschein, prima Fotowetter. 

Als besonderes Extra hatten wir gestern Regen im Wohnheim. Früh um neun klopfte ein aufgebrachter Vietnamese bei uns. Deren Russisch-Betonung passt zwar kaum zu unserem Hörverständnis, aber er konnte uns schnell klarmachen, dass es inzwischen auf mehreren Etagen in den Toiletten regnet. Ist schon schick, gleich auf dem Klo duschen zu können! Keine Ahnung, was da war. Nach zehn Minuten hörte es auf - wir durften Wasser schöpfen und uns anschauen, wie an mehreren Stellen in der WG die Tapete nach und nach durchweichte. 

Die WG ist inzwischen etwas wohnlicher geworden. In unserem Schrank gibt es jetzt auch mehr als ein Einlagebrett - vorgestern haben wir uns eine Säge ausgeliehen und die Reste der Partyraum-Tür aus der sechsten Etage (siehe letzte Mail) zu praktischen Einlagebrettern verarbeitet. Todschick, richtig Russisch! 

Zur Fahrstuhlsituation: Im Moment gehen alle drei Fahrstühle, die auf unserer Etage halten! Bei Nummer eins geht zwar die Tür immer erst nach 20 Sekunden zu, in Nummer zwei hat das Tastenfeld ein paar Macken (4, 8 und 12 leuchten bei den ersten drei Versuchen stets gleichzeitig auf, 16 geht gar nicht) und Nummer drei ist endlos träge - aber man soll sich ja nicht grundlos ärgern. Die Fahrstühle auf die anderen Etagen mussten wir dadurch kaum nutzen - deshalb keine Neuigkeiten von dieser Front. 

Im Übrigen gibt es noch einen ganz speziellen Fahrstuhl! Um eins wird bekanntlich das Wohnheim mit dicken fetten Schlössern verriegelt, dann ist kein reinkommen mehr. Offiziell! In der Dritten wohnen clevere Russen, denen kann man ein Steinchen ans Fenster werfen - und für rund zwei Euro wird man mit Klettergurt und Seilwinde in den Dritten hochgezogen. Vergangenen Monat ist wohl jemand abgestürzt, meinte irgendwer. Ein wenig Kitzel bleibt bei diesem Weg also! 

Richtig nervig ist das Einkaufen hier. Es gibt diverse Läden mit Theken – die Verkäuferinnen sind grundsätzlich erst einmal entsetzt, dass tatsächlich ein Kunde vor ihnen steht. Nach einem genervten "слушаю" – ich höre! – darf man dann vortragen: einen Joghurt bitte – schwupps steht der teuerste da. Die alternativen: Markt oder der Ramstor. Das ist das Russische Kaufland. Man bekommt theoretisch alles, wenn den Wunschartikel in Russland überhaupt gibt. Beispielsweise gibt es nirgends Karteikarten oder Stöpsel oder Abdichtband für Fenster. Alles andere findet man im Ramstor – mit viel Gedult. Denn das Shampoo steht neben dem Wein und nicht neben der Seife. Rasierklingen sind bei den Kondomen und weit entfernt vom Aftershave – das ist wiederum wo anders als der Rasierschaum. Wasser und Saft gehören auch nicht zusammen. Aber der Wodka steht schon am Eingang. 

Das es keine Stöpsel gibt, muss etwas mit der Einstellung zur Energie zu tun haben. Egal, wann man die leckere Küche im Elften betritt, es ist dort immer warm. Kein wunder, rechts neben dem Eingang läuft 24 Stunden am Tag das heiße Wasser, hinten links am Fenster sind prinzipiell die Hälfte der Herdplatten an. die andere Hälfte ist kaputt. 

Bei der Abgabe unserer Wäsche in der Wäscherei am Freitag hat man uns so richtig abgezockt. Ein T-Shirt kostete zwei Euro, eine Hose drei Euro – wir haben das aber zu spät bemerkt. Wir waren noch mal protestieren - Antwort: "Beschweren sie sich doch bei Putin!" Egal, jedenfalls wollten Siegfried und ich gestern nach x Tagen Verspätung endlich die letzten Teile abholen - plötzlich fehlten welche. Wir sollten aus einem Stapel Hemden die passenden heraussuchen - schier unmöglich. Und ein Hemd fehlte in jedem fall, wir sollen doch noch mal wiederkommen. Nach ewigem Diskutieren und hin und her und Chef anrufen und warten und trallala – insgesamt zwei Stunden - sind wir mächtig stolz raus! Wir haben 181,20 Rubel erhandelt (für Russland rekordverdächtig), außerdem wird das letzte Hemd nun mit dem Taxi vorbeigebracht! 

Zu guter letzt noch zum Studium – man ist ja nicht nur zum Spaß hier: der Russischkurs schlaucht, aber so langsam kommen wir in Fahrt. (Wir haben ja auch 181,20 Rubel erhandelt.) Seit Dienstag kenne ich auch meinen Fachbetreuer. Ich wurde in die Güterverkehrslogistik eingeteilt. Davon habe fast gar keine Ahnung, aber es klang spannend. Und warum soll ich mir noch mal das anhören, was ich schon aus Dresden kenne. Mal sehen, wie es wird, der Prof klang nett und seine Vorlesung ist sicher dennoch tröge ... *g*