Briefe an Freunde, Moskau (Norbert Schott)

Woche der Extreme

18. Mai 2003

Ich bin noch immer auf meiner Dienstreise mit stark ausgeprägten privaten aspekten. Das bedeutet beispielsweise, dass ich heute am Strand auf der Halbinsel Krim einen Vortrag ausgearbeitet habe ... 

Nach unserem Aufenthalt in Sochi waren wir weiter nach Rostov am Don gefahren ... Von einem kleinen Erlebnis abgesehen eine sehr schöne Stadt mit einem wunderbaren Flair. Dieses kleine Erlebnis hat an meiner Sichtweise auf Russland etwas gerüttelt, ich wurde ausgeraubt. Keine Sorge, am Ende war es meine Dummheit und ich hätte die Situation eigentlich schon im Keime erkennen können. Es ist auch nichts weiter passiert, ich bin nur 20 Euro ärmer. 

Weitere 10 Dollar verlor ich dann am Abend, diesmal an offizieller Stelle, jedoch auf ebenso illegale Weise. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, die Grenze zur Ukraine schon um 23.30 Uhr am 14. zu überqueren, obwohl mein Visum erst eine halbe Stunde später (am 15.) beginnt. Außerdem hatte ich auf den Immigrationszettel als Reisegrund meine Konferenz in Dnjepropetrowsk geschrieben, saß aber in einem Bus nach Jalta. Das ist natürlich alles kein Problem, wenn man "grüne Scheine" dabei hat. Eine nette Frau im Bus half mir beim Verhandeln ... Und schwups ... lächelten alle. 

Der eigentliche Grund der Reise ist, wie schon gesagt, der Besuch diverser Universitäten. Ich möchte herausfinden, was man in der GUS unter Ökologie versteht. In Rostov kamen interessante Thesen zu tage: "Wir haben die Straßenbahnen stillgelegt, damit die Autos schneller fahren können. Weniger Stau bedeutet weniger Abgase." 

Das zeigt viel über das russische Umweltverständnis. Ebenso beeindruckt hat mich der Umgang mit der Natur in Sochi. Wir waren mit dem Bus eine Stunde ins Inland gefahren, mit einer Seilbahn kann man dort auf einen zweitausender fahren. Im T-Shirt standen wir also im metertiefen Schnee und haben uns den ersten Sonnenbrand geholt. Zurück bin ich im Paraglider geflogen, das bot sich gerade so an. ;-) 

Aus der Höhe konnte man gut erkennen, was die Russen mit dem Wald am Berg angerichtet haben. Vor zwei Jahren wurde die Schneise für die Seilbahn geschlagen, letzten Sommer kam eine Skipiste hinzu. Riesige Erdmassen wurden sportgerecht zusammengeschoben. Als ich den Sport-Yuppie hinter mir frage, ob man nicht Angst vor Erosionen habe kommt die Antwort: "Nö, das haben die Ingenieure doch alles berechnet." Und sieht das nicht grauenvoll aus? "Wieso, ist doch nur ein Berg. Schau Dich um, hunderte Berge sind wie immer." Ein brutales, aber in Russland leider unwiderlegbares Argument - das Land ist endlos, was macht da schon ein Berg, ein Fluss, ein Wald? 

Erschwerend kommt hinzu, dass man in Russland ein recht merkwürdiges Verständnis von Schönheit hat. Alle schwärmen von Sochi ... In der Tat sind die alten Sanatorien mit ihren Parkanlagen wunderschön. Aber sonst? Ein hässlicher, verbauter Steinstrand, verstümmelt mit verrotteten Betonelementen im Wasser. Und auch an der Architektur der Sowjetzeit wäre einiges auszusetzen. 

Krim gefällt mir da schon wesentlich besser, weiß Lenin, warum hier weniger Schindluder mit der Natur getrieben wurde. Die Insel hat auch mehr zu bieten, als Russlands Schwarzmeerküste: Natur, Kultur (von tartarischen Moscheen über armenische und protestantische Kirchen bis zum russischen Glauben findet man hier alles) und auch Kurioses. 

Beispielsweise führt von Simferopol nach Jalta die längste O-Bus-Linie der Welt: 85 Kilometer - die Fahrt dauert reichlich zweieinhalb Stunden. Ich habe gestern ein wenig in diesem Bus geträumt. Auf dem Rückweg war ich dann zwanzig Minuten zu spät, der letzte Bus war weg. Geld hatte ich auch kaum noch, zum Glück fand ich nach einigen Minuten ein Schwarztaxi, welches mich zum Freundschaftspreis mitnahm. 

Die Fahrt war das Wildeste, was ich seit langem erlebt habe. Nach 15 Minuten überholten wir den verpassten Bus, nach 30 den vorherigen. In Jalta war ich nach schon einer Stunde - kein Wunder bei 110 Kilometer pro Stunde, selbst in Ortschaften. Unterwegs waren wir noch tanken, haben einen Freund des Fahrers für einige Meter mitgenommen, einen Fahrgast abgesetzt, an zwei Polizeikontrollen die Verkehrsregeln beachtet und sind für zehn Minuten langsam gefahren - der Fahrer musste sich besinnen, weil ihm eine Katze unter die Räder geraten war. 

Die ersten Tage auf Krim habe ich mit einer netten internationalen Gruppe verbracht - quasi ein Austauschprogramm: ich bekam Gesellschaft und die Gruppe einen Dolmetscher. Die Sprache ist hier natürlich ein eigentümlicher Mix aus Russisch und Ukrainisch ... Sehr abträglich für mein Russisch. 

Aber nach einigen Tagen in Dnjepropetrowsk, Odessa und Kiew geht es ja schon wieder zurück nach Moskau ... Auf in die letzten zwei Monate! 

Ein sehr schönes wort im Russischen ist übrigens: вальдшнеп ("waldschnep" ... Leider nur im biologischen Vokabular enthalten!