Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)
Baden im Mai, Pappelpollen und Kulturtage
In Novosibirsk liegen die Leute am Strand. Wir haben 30 (!) Grad - und was wäre da geeigneter, als ein Bad im Fluss Ob? Der Stausee des Ob - auch Obskoje Morje (Ob'sches meer) genannt - 15 Kilometer stromaufwärts ist übrigens noch vom Eis bedeckt. Vor eineinhalb Wochen haben wir am Strand ein Picknick gemacht und konnten noch zu Fuß über das Eis laufen. Das ist nun nicht mehr zu empfehlen, aber dennoch ist das Wasser noch lange nicht in Sicht.
Die Stadt wird nun endlich grün, insofern sie das noch kann. Bislang standen in der ganzen Stadt Pappeln, beiderlei Geschlechts - denn auf Geschlechtertrennung hat zur Zeit des rasanten Städtebaus in Sibirien vor 40 Jahren keiner geachtet. Und zum Sommeranfang verwandelten die weiblichen Bäume nahezu alle russischen Städte für zwei Tage in ein Meer aus Pollenflaum. Nun nicht mehr. Denn schlaue Wissenschaftler haben festgestellt, dass Pappelpollen (schönes Wort) Allergien auslösen. Also wurden sämtliche Pappeln in sämtlichen sibirischen Städten auf vier Meter hohe Stummel eingekürzt, jegliches Blattwerk wurde entfernt. Nun sind die Straßen von bizarren Holzsäulen gesäumt. Ohne Grün und ohne Pollen.
Passend dazu ein Absatz aus dem Bericht von unserer letzten Konferenz in Omsk: "Für Verkehrsvermeidung ist kein Verständnis vorhanden. Auch Katalysatoren werden als zu teuer abgelehnt. Dafür will man viele, extra gezüchtete Bäume pflanzen ('Extra gezüchtet? Was sind das denn für Bäume?' - 'Pappeln!'), die die immensen Abgasmengen verarbeiten sollen."
Im Moment sind hier in Novosibirsk die deutschen Kulturtage. Das Goethe-Institut hat sich bemüht, ein Programm rund um die deutsche Kultur zu basteln. Das Thema Aktionskunst wird so abgedeckt: "Performance Johan Lorbeer 'Das proletarische Wandbild' - Die Überschreitung der Realität in den Raum der Kunst demonstriert Johann Lorbeer in Form eines 'lebenden Kunstwerk': Gekleidet in den Arbeitsanzug eines Straßenkehrers, 'steht' er horizontal an einer Wand und kommuniziert mit den Betrachtern."
So stand also heute ein Berliner Müllmann an der Wand der Gemäldegalerie von Novosibirsk und unterhielt sich mit dem Proletariat. Er meinte natürlich, dass er auf dem Boden der Tatsachen stehe, und das Proletariat an der wand. wie man's sieht!