Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Das moderne Matriarchat

10. Juni 2011

Für Deutsche einfach ein undenkbares Bild: ein Mann kommt in eine gemischte Runde, gibt allen anwesenden Männern die Hand, nickt den Frauen aber nur zu. In Russland ganz normal, im Gegenteil, alles andere wäre unüblich. Gäbe er den Frauen die Hand, würde es wohl als Scherz aufgenommen. Ich kann mir darauf nur einen Reim machen - mit seinen groben Männerpranken fasst man eine fremde, zarte Frau einfach nicht an. 

Es ist also eine Form der Verehrung - denn ansonsten sind die russischen Männer in Fragen der Etikette gut erzogen. Man gibt Frauen die Hand, wenn sie die letzte Stufe vom Bus auf die Straße überwinden müssen. Man trägt Ihr jegliche Tasche, die offensichtlich mehr als Kosmetik und Mobiltelefon enthält. Man hilft unbedingt in den Mantel. 

Um Ausreisegedanken der weiblichen Leserschaft vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass dies alles nur Ersatzhandlungen sind, welche den fehlenden Willen zum Abwaschen, Kochen, Bügeln und ähnlichen häuslichen Tätigkeiten kompensieren. In den meisten russischen Haushalten übernehmen all diese Aufgaben die Frauen, die zudem auch stets arbeiten gehen, also keine Hausfrauen sind. Und Zeit zum Hübschmachen finden sie auch noch - denn auch dies ist in Russland eher eine weibliche als eine männliche Tugend. Ich erinnere daran, dass ich 2003 in Moskau noch kein Duschbad für Männer finden konnte. 

Deutsche Mädchen wollen hingegen nicht hübsch sein - ein gern ausgesprochenes Klischee in Russland. Allenfalls durch die Konkurrenz der russlanddeutschen Einwanderinnen würden die deutschen Frauen in letzter Zeit wieder zu Kosmetik greifen - auch das habe ich schon gehört. Es ist nicht so, dass russische Mädchen keinen Wert darauf legen, für ihr Fachwissen oder für intelligente Gespräche gemocht zu werden, aber dabei kann man gern noch zusätzlich extrem gut aussehen! 

Klingt natürlich alles nach altem Rollenverständnis. Ist es auch. Eine Kollegin hat unsere Programmierer befragt, ob sie für ein Babyjahr zu Hause bleiben würden: "Unvorstellbar, dass meine Frau das Geld verdient, von dem ich ihr Blumen kaufen will!" Diese Problematik wäre mir nur bedingt in den Sinn gekommen. 

Ein Journalist meinte vor einigen Jahren dennoch zu mir, Russland wäre das moderne Matriarchat. Denn die wahre Macht haben in Russland die Frauen, wenn auch subtiler. Die Jungs sind ihren Partnerinnen einfach hilflos ausgeliefert - den Reizen können sie nicht widerstehen, alleine kochen haben sie ver- oder nie gelernt und nach zu viel Wodka finden sie ohne ihre kluge, nüchterne Frau einfach nicht mehr nach Hause! 

Viele Russinnen schütteln daher den Kopf über die Emanzipationsbewegung. Wozu vordergründige Gleichberechtigung, wenn man doch schon im Hintergrund viel mehr Macht hat?! 

Und das lasse ich jetzt mal so stehen.