Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Demokratie

28. September 2007

Als ständiger und vor allem freiwilliger Bewohner des Landes werde ich in Deutschland immer wieder gefragt, wie ich denn als tendenziell Linker in solch einem totalitären System leben kann. Dafür muss man ganz weit ausholen:

Der einfache Russe hat von Demokratie schlicht und ergreifend keine Ahnung. Es fehlt an historischen Erfahrungen. Früher legte der Zar alles fest. Dann folgte die sowjetische "Diktatur des Proletariats" - wobei man die Definition von Proletariat wohl stark hinterfragen müsste. Ging es dem Land schlecht, war der Zar oder das Zentrolkommitee (ZK) der Kommunistischen Partei schuld. Kamen der Zar oder das ZK nicht als Schuldige in Frage, dann schob man es auf den Lieben Gott. 

1990 setzte das letzte ZK auf "Demokratie". 140 Millionen sowjetisch geprägte Russen durften auf einmal wählen. Während der Wahlen wurde ihnen Freiheit und eine goldene Zeit versprochen - sie bekamen aber einen häufig betrunkenen Präsidenten und tatsächlich Freiheit.

Einige kluge Köpfe nutzen diese Freiheiten und kauften sich Ölfelder. So wurden aus den Reichtümern des großen sowjetischen Volkes die Reichtümern dieser wenigen klugen Köpfe. Bis 1990 wurde mit dem sowjetischen Öl die prunkvolle Moskauer Metro gebaut, Sibirien erschlossen oder die Freundschaft zu Kuba finanziell gepolstert. Ab 1990 flossen die Millionen hingegen nach Stuttgart-Sindelfingen (Mercedes), in die Erschließung Moskauer Luxusvillen und in Partys für gekaufte Freunde - meist jung und weiblich - der Oligarchen.

Olga und Oleg von nebenan hatten hingegen wenig von den neuen Freiheiten. Zu Sowjetzeiten konnte man sich ab und an über einen Urlaub im Ferienheim der Gewerkschaft am Schwarzen Meer freuen. Nach der Perestroika wurden Fahrkarten dorthin unerschwinglich - an Spanien, Thailand oder Deutschland war nicht einmal zu denken. Das Geld reichte gerade so zum Leben.

1998 kam Wladimir Wladimirowitsch Putin an die Macht - und legte sich mit den Nutznießern der Perestroika an. Insbesondere Michail Borissowitsch Chodorkowski, der Direktor des Ölimperiums Jukos, bekam dies zu spüren. Kurz nachdem er begann, mit seinen Milliarden der Opposition seine Vorstellung von "Demokratie" schmackhaft zu machen, wanderte er unter fadenscheinigen Vorwürfen ins sibirische Arbeitslager. Mitleid hatte aber nur die westliche Presse - während sich Olga und Oleg von nebenan freuten. Jukos wurde mit Hilfe der Gerichte zerschlagen. Die Milliarden fließen nicht mehr nach Sindelfingen oder in die Politik, sondern wieder in die Moskauer Metro oder nach Sibirien.

Mag sein, dass Chodorkowski wirklich eine gerechte Demokratie wollte. Aber seine Vorgeschichte - die Art und Weise, wie er reich wurde - sieht nicht danach aus. Insofern muss man verstehen, dass sich Olga und Oleg von nebenan freuen, dass Putin die politischen Ideen Chodorkowskis durchkreuzt hat. Und deswegen wählen sie auch gern wieder Putin, beziehungsweise dessen Favoriten für seine Nachfolge. Olga und Oleg haben quasi verstanden, wie man richtig wählt. Nur der Westen versteht Olga und Oleg nicht.

Putins Mannschaft beeinflusst die Medien natürlich. Aber während man dies als Westeuropäer als "Beeinflussung der Leute" einstuft, sehen dies viele Russen als Bewahrung vor schlechten Einflüssen, von denen man in den frühen Neunzigern genug bekommen hat. Russland hat also wieder einen Zaren, der das Land weise regiert.

Man muss noch einen weiteren Aspekt in Russland beachten - das Land ist riesig. Wenn man in Deutschland die Grünen wählt, dann stimmt man gegen das Atomkraftwerk, welches maximal 200 Kilometer entfernt explodieren könnte. Oleg und Olga in Novosibirsk machen sich über die Kernenergie weniger Sorgen - die nächsten Kernkraftwerke sind im Ural oder kurz vor Alaska, also tausende Kilometer entfernt. Viele Fragen haben kaum Relevanz für die kleinen Leute in solch einem riesigen Land.

Und bei Sachen, die den kleinen Menschen vor Ort wichtig sind, gibt es sogar eine Form von direkter Demokratie. 

Als vergangenes Jahr eine Öl-Pipeline aus Kostengründen direkt entlang des Baikals gebaut werden sollte, gingen die Leute auf die Straße. Zuviele, um das Thema auszuschweigen. Also durfte das Fernsehen das Thema in einer Pressekonferenz mit Putin ansprechen. Putin nahm einen Filzstift und malte auf einer zufällig bereitgestellten Landkarte die Pipeline 40 km nördlicher ein. Wo sie nun gebaut wird.

Vor zwei Jahren wurde ein Autofahrer verurteilt, weil er einem viel zu schnell fahrender Politiker im Weg war - beim Unfall kam der Politiker zu Tode. In Moskau gingen tausende Autofahrer auf die Straße, um den an sich unschuldigen Autofahrer zu unterstützen und gegen den Fahrstil von Politikern und Oligarchen zu protestieren. Putin ließ sich wiederum im Fernsehen fragen, um eine Revision des Verfahrens zu versprechen, und den Fahrer somit frei zu sprechen.

Putin ist fein raus - Oleg und Olga von nebenan freuen sich, dass ihr Präsident so bürgernah entscheidet. Und dennoch muss er erst aktiv werden, wenn wirklich etwas schief läuft. So lange alle nur ein wenig über die Schuldigen - Putin oder im Zweifelsfall den Lieben Gott - schimpfen, ist alles prima. Gehen aber tausende auf die Straße, dann spielt Putin kurz den demokratischen und klugen Präsidenten und verschafft sich so gleich noch ein gutes Image für die nächsten Wahlen. Bei denen er dann ganz demokratisch wiedergewählt wird. 

Das klappt so prima, dass die Russen gern die Verfassung ändern würden, um Putin ein drittes mal zum Präsidenten küren zu dürfen - was bislang ausgeschlossen ist. Scheinbar ist ihm das aber zu plump und nun dürfen alle über mögliche Tricks rätseln: Installiert er eine Marionette? Wird er Ministerpräsident und lässt diesem zum Mächtigsten im Lande erklären? Lässt er einfach für ein paar Monate einen Dilettanten ans Werk, um dann gleich Neuwahlen zu provozieren - bei denen Putin wieder legal antreten dürfte?! Oder wird er einfach Vorstandsvorsitzender bei Gazprom und verdient endlich ordentlich Geld?

Ausgeschlossen ist nichts! Warten wir es ab!