Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Einschätzung nach der Wahl in Russland II

05. März 2012

Putin wurde gewählt und die deutsche Presse wird nicht müde, ihm diesen Sieg irgendwie abzuerkennen. Mal haben ihn die falschen gewählt (spiegel.de: "Junge, gut-ausgebildete Großstädter aber, die er zur Modernisierung der Wirtschaft braucht, hat er verprellt."), mal wirft man ihm Manipulationen vor (tagesschau.de: "Die Wahl wurde erneut überschattet von Manipulationsvorwürfen. Die unabhängige russische Wahlbeobachterorganisation Golos verzeichnete weit mehr als 3000 Verstöße landesweit.") und so weiter und so fort.

Zwei Dinge sind meiner Ansicht nach Fakt: Diese Wahl ist mit Abstand die ehrlichste, die Russland in den letzten Jahren erlebt hat. Und dieser Sieg wurde von Putin wirklich in einem Wahlkampf erkämpft.

Noch im November sah es düster aus - nach der Rochade von Putin und Medwedew waren die Bürger erbost, zu dummen Stimmvieh degradiert zu werden. Das Resultat waren klägliche 45 Prozent für Putins Partei bei der Parlamentswahl - und selbst diese Zahl muss man angesichts einiger gut dokumentierter Fälschungsvorwürfe mit Vorsicht genießen.

Putin ging in die Offensive.

Zum einen sorgte er für Transparenz. Es gab mit dem Ölmilliardär Prochorow ein neues, unverbrauchtes Gesicht im Wahlkampf - mit einem ernsthaften Programm und wenig Polemik. Ferner wurden in allen Wahlbüros Webcams aufgehängt, die dazugehörigen Rechner in einem verplombten Stahlkasten gesichert. Auf einer Webseite konnte man auf einer Karte jedes einzelne Büro ansteuern und persönlich den ganzen Tag beobachten.

Zum anderen setzte Putin inhaltlich auf Stabilität und rührte am Nationalstolz. Mit Verweis auf die Ukraine, Georgien, Ägypten, Libyen und Syrien wurde vor einer von außen (Amerika) aufgesetzten Revolution gewarnt, die im Chaos enden könnte. Angesichts des sich langsam regenden Wohlstands war diese Vorstellung selbst den "gut-ausgebildeten Großstädtern, die er zur Modernisierung der Wirtschaft braucht" (um spiegel.de zu zitieren) keine attraktive Vorstellung. Selbst der eloquente Prochorow war unter diesem Gesichtspunkt keine Variante - denn die Herkunft seiner Milliarden ist Vielen suspekt und weckt Zweifel an seinen Zielen.

Putin hingegen konnte sich auf die erfolgreichen letzten zwölf Jahre berufen. Die Einkommen sind deutlich gestiegen - mit Hochschulbildung sind 1000 Euro brutto inzwischen normal. Es entwickelte sich eine Mittelschicht mit neuer Eigentumswohnung und zwei Autos in der Familie. In die Infrastruktur wird (entgegen vielen deutschen Berichten) stark investiert - zwischen St. Petersburg und Moskau fahren nun deutsche Hochgeschwindigkeitszüge, es werden Schulen, Umgehungsstraßen und Autobahnen errichtet. Dass dies in einem riesigen Land etwas länger dauert als in den fünf neuen Bundesländern, sollte nachvollziehbar sein. Und Russland ist komplett schuldenfrei!

Dass Putin natürlich vom hohen Ölpreis ab 2000 profitiert hat, ist klar - aber so lange bei der Bevölkerung dennoch etwas vom Wohlstand ankommt und nicht nur wenige Oligarchen wie unter Jelzin profitieren, wählt man gern und dankbar Putin!

Was ist nun dran an den Vorwürfen der deutschen Presse?

* "Wenn der Wohlstand eines Tages ausbleibt, dann wird Putins Stern sinken": Stimmt!
* "Putins Parteikollegen sind korrupt": Stimmt!
* "Die gebildeten Großstädter hat Putin verloren": Quatsch! Viele meiner gut verdienenden Kollegen haben ihn gewählt, der proletarische Schrauber in der Autowerkstatt, wo ich heute morgen war, nicht!
* "Allein Beamte und Rentner haben den Sieg ermöglicht": Falsch, gerade diese sind ja die Verlierer gegenüber sowjetischen Zeiten und wählen daher tendenziell die Kommunisten!
* "Beobachter haben 3000 Wahlbeschwerden registriert": 3000 stimmt, man sollte aber auch mal lesen, was da so steht. In Novosibirsk waren gestern Abend fast durchweg banale Fragen als "Beschwerde" registriert: "Darf Putins Partei zwei Wahlbeobachter in ein Büro schicken?" "Eine gebrechliche Oma hatte eine mobile Wahlurne nach Hause bestellt, aber die Adresse falsch angegeben. Darf diese korrigiert werden?" "Der Beobachter sieht nur den Rücken des Wahlleiters." Eher selten wirkliche relevante Dinge: "Die Webcam stand für fünf Minuten still!", "Ein Wahlbeobachter wurde aus dem Büro verwiesen!", "Vor dem Wahlbüro wurde zur Wahl von Putin aufgerufen!" oder "Hier gibt es auffällig viele Wähler aus anderen Wahlbezirken!" Wohlgemerkt sind aber auch diese drei Punkte kaum verwertbare Verstöße oder gar Nachweise konkreter Fälschungen!
* "Putin-Anhänger werden mit Bussen von Wahlbüro zu Wahlbüro gefahren": In meinen Augen Quatsch. Wer in einem fremden Wahlbüro wählen will, muss einen Nachweis von seinem Heimatort dabei haben, dass man dort nicht wählt. Dieser Nachweis wird unter Vorlage des Passes gegen den Wahlzettel getauscht. Für einen Missbrauch müssten also professionell manipuliert werden - mehrere Nachweise oder falsche Pässe. Und alles wäre nachweisbar: Auf den Webcams müssten die Leute mehrfach zu sehen sein sowie in den Wählerlisten doppelt auftauchen. Solche Nachweise kann niemand bieten!
* "Kollektive werden zur Stimmabgabe unter Aufsicht des Chefs gezwungen": Legende! Dies wäre ja auf den Webcams zu sehen, ich kenne aber keinerlei solche Aufnahmen!
* "Universitäten rufen in Aushängen die Studenten zur Wahl von Putin auf": Die mir bekannten Beispiele waren Fälschungen. Ebenso angebliche Stimmenkäufe.
* "Verstorbene stimmen für Putin": Dies wäre im Wählerverzeichnis erkennbar und anfechtbar.
* "Putin ist viel mehr im Fernsehen zu sehen": Er war amtierender Ministerpräsident - da wird man natürlich häufig gezeigt. In reinen Wahlsendungen soll hingegen der Kommunist Sjuganow am häufigsten gesendet worden sein.
* "Putin hat die echte Opposition nicht zugelassen": Eine Partei wurde grundsätzlich nicht genehmigt, der Kandidat der anderen nicht zur Wahl zugelassen. Der Grund - ungültige Unterstützerunterschriften - mag fingiert sein. Es ist aber nicht so, dass dies den Erfolg von Putin ernsthaft schmälert - mit Prochorow gab es ja durchaus einen wählbaren Oppositionellen.

Mein Fazit ist also: Auch wenn es Europa nicht wahr haben will - Putin hat schlicht und ergreifend den Nerv der Russen getroffen und gewonnen. Und wer nun behauptet, dies wäre nur durch die Propaganda Putins oder Fälschungen gelungen, der erklärt an sich die Russen für dumm! Und wenn das der Westen weiter so macht, dann stärkt er damit nur nationalistische Tendenzen in Russland!

P.S.: An sich ist die Opposition Russlands gut mit der Occupy-Bewegung in Deutschland vergleichbar. Im Fernsehen kommt sie sehr wenig vor. Die Veranstaltungen werden früher oder später von der Polizei (nicht immer gewaltlos) geräumt. Viele Deutsche sympathisieren mit den Ideen der Bewegung, wählen dann aber am Ende doch CDU oder SPD. Weil Merkel keine Alternativen zulässt? Weil Merkel häufiger als die Occupy-Leute im Fernsehen ist? Weil die Presse in Deutschland kontrolliert ist?