Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)
Es weht ein frischer Wind
So langsam wird es auch in Sibirien frisch, heute haben wir minus 38 Grad. Einige Kollegen haben an ihrem Fenster auch Thermometer mit minus 41 entdeckt - je nach Stadtbezirk. Radeln wird nun doch immer schwieriger. Zwar gucken aus der Jacke sowieso nur Augen und Nase raus, aber zum einen gefriert die Atemluft an den Wimpern, zum anderen wurde es gestern bei minus 34 Grad an der Nase erheblich kalt. Ich brauche also eine Skimaske, bevor ich wieder radeln kann.
Aber nicht nur mir ist frisch, vor allem friert das Fahrrad. Der Rahmen kann brechen. Und das Öl friert ein. Ab minus 15 geht es los, dass der Freilauf nicht richtig funktioniert. Ab minus 30 riskiert man, dass die Pedale komplett durchdrehen. Deswegen muss ich das Rad stets mit ins Büro nehmen. Morgens und abends, nach verlassen des Hauses, habe ich also etwa zehn Minuten Zeit, bis das Öl gefriert.
Die Aktion, sein Fahrrad mit ins Büro zu nehmen, hat einige Nachteile. Zum einen bekommen alle Kollegen mit, dass ich bei dem Wetter noch radle - vom vielen Kopfschütteln könnte ihnen schlecht werden. Zum anderen arbeiten wir ab neun - wie so ziemlich alle im Haus. Also ist der Lift überfüllt und ich muss das Rad elf Etagen tragen. Ich ziehe es daher im Moment vor, täglich 15 Minuten zu spät zu kommen, wenn der Lift wieder leerer ist.
Über all die anderen Effekte des sibirischen Winters habe ich vorgestern einen Zeitungsartikel geschrieben:
Sibirien lässt der Frost kalt
"30 oder 40 Grad - minus natürlich - kommen doch jeden Winter vor", relativiert Alisa Melzer, Möbeldesignerin aus Nowosibirsk, das Medienecho über die Kältewelle in Russland. Während die Moskauer frieren, bleiben die Sibirier ganz gelassen: "Ab minus 50 Grad ist es wirklich kalt", meint Alisa Melzer.
Das Leben in der Metropole Nowosibirsk läuft dieser Tage ganz normal weiter, obwohl das Quecksilber seit Tagen nicht über 25 Grad steigt. Doch die 1,5 Millionen Einwohner haben sich seit Jahrzehnten mit solchen Temperaturen arrangiert.
Um die Wohnung warm zu halten, werden pünktlich im Herbst alle Fenster mit Watte abgedichtet, anschließend mit Papier und Seifenwasser verklebt. Offen bleibt nur ein kleines Oberfenster - zum Regulieren der Zimmertemperatur. Denn Heizungsventile gibt es nicht. Reicht die Wärme vom zentralen Heizkraftwerk der Stadt nicht aus, holen die Sibirier ihre elektrischen Heizgeräte aus dem Schrank. Und wenn auch das nicht ausreichen sollte, greifen Einige auf die wärmenden Kochplatten ihres Gasherdes zurück.
Freude bereitet das Wetter den Taxifahrern, die bei der Kälte besonders viel Kundschaft haben. Ruslan Zurawlew beispielsweise fährt in seinem Lada fast rund um die Uhr: Und wenn er schläft, "schaltet sich der Motor alle zwei Stunden automatisch an und heizt den Wagen kurz durch", erläutert er. So wird verhindert, dass die Schmierstoffe, die Schläuche sowie die Batterie einfrieren. Andere Autofahrer stellen ihr Auto auf bewachte Parkplätze. Überall bieten die Wächter für rund umgerechnet zwei Euro pro Nacht an, das Auto in regelmäßigen Abständen zu starten.
Wegen des Frostes ist in Sibirien Diesel sehr unpopulär, der Treibstoff wird zäh. Selbst Kleinlaster fahren mit Benzin oder Gas. Dieselfahrzeuge müssten stillgelegt werden oder ununterbrochen durchlaufen.
Dem Eis auf den Straßen entgegnen die Autofahrer spezielle Reifen. Was in Deutschland streng verboten ist, gehört in Russland zur Standardausrüstung - Spikes. Kleine Metallstückchen im Gummi garantieren auch auf vereisten Straßen Halt. Selbst für Fahrradfahrer gibt es solche Bereifung - allerdings bei geringer Nachfrage, wie die Verkäufer im Sportgeschäft "Test Center" berichten. Und sie erzählen auch warum: "Für den Preis dieser Fahrradmäntel bekommt man doch ein prima Snowboard!"
Skisport ist dementsprechend populär. Alle Parks sind von Langlaufloipen durchzogen. Und es gibt sogar zwei Abfahrtshänge im Stadtgebiet. Hier bringt der Frost jedoch eine Einschränkung mit sich: "Ab 25 Grad bleiben die Lifte abgeschaltet", erläutert der technische Leiter Alexandr Krajew am Telefon. Das "minus" lässt er weg, über Plusgrade redet man im sibirischen Winter nicht.
Ein anderes sehr beliebtes sibirisches Hobby kommt aber trotz des Frostes nicht zum Erliegen: das Eisangeln. Wie auf allen russischen Seen und Flüssen sitzen auch auf dem Ob in Nowosibirsk einige Hartgesottene. Morgens bohren sie ein Loch in das dicke Eis und dann warten sie bis kurz vor der Dämmerung auf Fische, die anbeißen. Der Fang wird später auf dem Markt verkauft - natürlich unter freiem Himmel. Frostanfällige Dinge wie Käse, Obst und Blumen finden hingegen im Gebäude ihre Käufer.
Während im Westen Russlands schon ab minus 25 Grad alle Schüler Kältefrei bekommen, müssen sibirische Kinder bis minus 30 Grad zur Schule gehen. Doch nicht alle nehmen dies in Anspruch. Tatjana Sorina, Ingenieurin in Nowosibirsk, erzählt: "Am Samstag habe ich meine Tochter in die Schule gebracht, und es waren immerhin sieben Klassenkameraden da." An Werktagen kommen aber meist alle Schüler, da die Eltern arbeiten gehen müssen und die Kinder nicht alleine zu Hause sitzen sollen.
Da alle Schulen, Fabriken und Geschäfte arbeiten, ist auch auf den Fußwegen nicht weniger los als sonst üblich. Nur dicker sind die Menschen, dank der dicken Stiefel, doppelten Hosen und flauschigen Wintermäntel. Ein russisches Sprichwort besagt: "Ein Sibirier ist kein Mensch der nicht friert - ein Sibirier ist ein Mensch, der sich warm anzieht."
Und wenn es doch einmal etwas frisch wird, legt man sich später zu Hause hin, deckt sich ordentlich zu, trinkt warmen Tee und löffelt dazu selbst gemachte Himbeermarmelade - ein russische Geheimrezept gegen Erkältungen. Und wartet auf den Sommer, der dank Kontinentalklima schon im Mai bis zu 30 Grad bringen kann - plus, versteht sich.