Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)
Gedanken beim Treppensteigen
"Bis zur Fertigstellung des Liftes verbleiben ... 201 ... Tage." bis zum Arbeitsplatz verbleiben 240 Stufen.
Zum Glück betrifft der freudige Text - super, nur noch 29 Wochen - lediglich den zweiten Lift im Haus, der erste ist bereits fertig gestellt.
Ein Lift für schätzungsweise 1000 Menschen, die alle pünktlich um Neun auf Arbeit kommen. Und laut Plakette trägt der Lift 1000 Kilo - aber das ist entweder falsch oder der durchschnittliche Russe wiegt 125 Kilo.
Wer nun schlau sein will und einfach schon um Acht auf Arbeit kommen will, wird ebenso enttäuscht. Denn da hängt auch an Lift eins ein freudiger Text: "Entschuldigung, der Lift ist im Moment außer Betrieb." Ich würde nun mal unterstellen, dass das "Entschuldigung" geheuchelt ist! Denn neulich habe ich nachgefragt, was es mit dieser Tafel auf sich hat:
"Das Büro der Liftfrauen ist erst ab halb Neun besetzt."
"Wozu brauche ich die denn? Ich kann auch alleine Knöpfe drücken!"
"Und was machen sie, wenn sie hängen bleiben?"
"In diesem Fall warte ich im Lift bis halb Neun! Wird ja nicht so oft vorkommen."
"Wie stellen sie sich das vor?! Und warum arbeiten sie nicht erst um Neun?"
Überhaupt, Liftfrauen - Knöpfe drücken, Etagen ansagen, zwei Wände, ein Spiegel, eine Tür, Fußboden und Decke. Die erste ist irre geworden, fing an blödes Zeug zu reden und wurde wegen Passagierbelästigung entlassen. Die zweite kann inzwischen Bücher lesen und gleichzeitig fühlen, in welchem Stock wir sind.
Aber 240 Stufen sind auch nett, man kann Zeitung lesen, mit dem Mobiltelefon rumspielen, die Zahl der Stufen ausrechnen, oder auch nachzählen, alle 24 Stufen durch das Fenster den Schnee bewundern ...
Denn rund sechs Wochen nach dem ersten Schnee bleibt er nun endlich liegen statt zu matschen. (Zwei Wochen später als die russische Bauernregel besagt.) Wie soll er auch tauen, bei minus zehn Grad. Auch die Flüsse frieren nun zu.
Wir haben den Schnee in Barnaul begrüßt, eine kleiner Stadt (700.000 Einwohner) 300 Kilometer südlich von Novosibirsk. Dort waren es minus 15 grad, also definitiv zu kühl zum Spazieren. Aber zum Glück fahren dort Berliner Doppelstockbusse ("Mitnahme von Hunden auf das Oberdeck verboten" klebt noch an der Treppe) aus denen man sich prima die Stadt anschauen kann.
Die Möglichkeit für solch einen Ausflug gab uns der tag der großen sozialistischen Oktoberrevolution. Diese war am 25. Oktober nach altem russischem Kalender, also am 7. November nach dem modernen europäischen. Der 7. November wiederum war ein Sonntag, in diesem Fall gilt Artikel 112 des russischen Arbeitsrechts: "Bei Zusammenfallen von Wochenende und arbeitsfreien Feiertagen, wird das Wochenende auf den nächsten Arbeitstag nach dem Feiertag verschoben." In diesem Fall war also am Montag Sonntag. den Feiertag kann man natürlich nicht verschieben, der ist schließlich "heilig", wie mir erklärt wurde.
Ganz so heilig übrigens auch nicht, denn die Oktoberrevolution wird schon seit einigen Jahren mit dem Zusatz "Tag der Eintracht und Aussöhnung" begangen. Und ab nächstem Jahr verlegt man den Feiertag auf den 4. November und begeht die Vertreibung der Polen aus Moskau im Jahre 1612 als Tag der "Nationalen Einigkeit".
Anbei noch ein Foto aus dem Fenster unseres Büros. es ist leider nur wenig Schnee zu sehen, da wir in luftiger Höhe arbeiten (240 stufen) und der Wind den Schnee von den Nachbardächern weht.
P.S.: Die "russischen Finger": großer Finger, Zeigefinger, Mittelfinger, namenloser Finger, "Misinjez". Bei uns bekommt der Daumen eine separate Bezeichnung, bei den Russen der Misinjez! warum?