Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)
Russland im Wandel
Man sollte seine Beiträge häufiger schreiben. Eigentlich hatte ich seit Monaten vor, in einer Mail vom Wandel Russlands in den letzten fünf Jahren zu berichten. Nun wandelt sich in den letzten Tagen so viel, dass ich mich mit der ursprünglich geplanten Beschreibung nun wirklich beeilen muss, damit sie nicht überfällig wird.
Wenn ich meine Mails aus dem Jahr 2002 so durchlese, dann bemerke ich, dass sich in den letzten fünf Jahren vieles gewandelt hat. Zwar ist im Kern einiges gleich geblieben - geht der Fahrstuhl am Freitag kaputt, muss man bis Montag Treppen steigen - aber an der Oberfläche sind die Veränderungen unübersehbar. Anstatt Ewigkeiten nach allerlei Kleinigkeiten zu suchen, geht man heute in den IKEA. Wo früher zwei Ladas im Hof standen, stehen heute 20 Japaner herum. Und während wir 2002 im Studentenwohnheim bei Tee und einfache Kekse gegessen haben, hat die nächste Generation russischer Studenten einen Nebenjob und trifft sich zu Latte macchiato und Cheese cake im noblen Cafe.
Grundlegend geändert haben sich die Löhne in den Städten. Auch Handwerker ohne Hochschulausbildung verdienen inzwischen umgerechnet 700 Euro netto, plus diverser Nebenjobs zu 10 Euro die Stunde. Ein guter Ingenieur findet Arbeit mit 1000 bis 2000 Euro Monatsverdienst, ein mittlerer Manager kann auch das Dreifache verdienen. Schlechter sieht es für einfach auswechselbare Leute, wie Kassierer oder Fahrkartenverkäufer im Bus, aus - hier gibt es 300 bis 500 Euro. Auch wer vom Staat abhängt - Lehrer, Rentner, Ärzte kommunaler Einrichtungen - hat in keinem Fall mehr.
Aber auch diese Löhne erlauben - dank grundsätzlich niedriger Ansprüche - einen ordentlichen Konsum. Neue Wohnungen, Autos, Inneneinrichtungen, Reisen, Ausgehen - all das steht hoch im Trend. Man kommt kaum noch nach, alle neuen Clubs und Kneipen in Novosibirsk kennen zu lernen. Die Stadt kommt kaum noch nach, die Straßen immer weiter zu verbreitern, damit sich in den Staus überhaupt noch etwas zuckt. Und die Baufirmen und Banken können Wohnungen für Kredite zu unverschämten Preisen anbieten, und dennoch wird alles verkauft. 2000 Euro pro Quadratmeter bei 20 Prozent Zinsen sind keine Seltenheit. Auch in all den anderen genannten Bereichen - Nachtleben, Bars, Autos, aber auch Lebensmittel - fragt man sich als Deutscher, warum in der Heimat vieles deutlich billiger ist.
Ich entsinne mich, dass ich vor fünf Jahren schrieb, dass es in Russland kein Duschbad für Männer gibt - der gewöhnliche Russe wusch sich mit Seife. Überhaupt waren modische Jungs eine Seltenheit - es dominierte der stramme Kerl in Adidas-Hosen. Diese Typen gibt es natürlich noch immer, aber inzwischen nimmt die Herrenkosmetik im Supermarkt mindestens ein Regal ein und die drei Streifen wurden durch deutlich edlere Mode verdrängt.
Nun aber zeigt diese Express-Entwicklung ihre Schattenseiten - die russische Wirtschaft steht auf wackligeren Füßen, als viele dachten. Amerika ist mit sich selbst beschäftigt und zieht sein Kapital aus dem lukrativen russischen Markt ab - und sofort kommt Russland ins Straucheln. Auf vielen Baustellen ist es in den letzten Tagen verdächtig ruhig, über diverse Banken kursieren Bankrottgerüchte, die Stahlwerke bleiben auf ihren Metallen sitzen und selbst bei METRO C&C sind die Schokoladenregale leer weil die Lieferanten keine Kredite für den Einkauf bekommen. Diverse befreundete Architekten wurden schon in unbezahlten Urlaub geschickt. Während in deutschen Medien Panik herrscht, skizziert das russische Fernsehen nur eine kleine Eintrübung - wobei die Lage deutlich besorgniserregender als in Europa ist.
Zwar wird IKEA ganz sicher nicht morgen geschlossen und ich muss auch bestimmt nicht wieder auf Seife zurückgreifen - aber eine deutliche Abkühlung der russischen Wirtschaft ist unaufhaltbar. Insofern ist in Russland alles beim Alten geblieben - das Land ist einfach unberechenbar! Und das macht es auch im fünften Jahr noch immer spannend.