Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)
Russland in der Krise
Russland wird wieder normal. Das mag zynisch klingen, aber mal ehrlich - der Höhenflug 2008 war schon eigenartig. Wolkenkratzer-Träume, Eishockey-Weltmeister, Eurovisions-Gewinner, Zuschlag zur Olympiade 2014. Ich atmete erleichtert auf, als nach drei Tagen Jubelgekreische in einer lauen Sommernacht letztes Jahr in unserem Hof gegen 3 Uhr endlich Ruhe einzog - offensichtlich endete Russlands Glückssträhne im Halbfinale der Fußball-EM. Aufatmen nicht nur, weil ich nun endlich schlafen konnte, sondern auch, weil mich mein Bauchgefühl doch nicht getäuscht hatte.
Normal war es jedenfalls nicht, wie in Russland die Einkaufszentren wie Pilze aus dem Taiga-Boden schossen. Wovon lebten all die Nobelboutiquen, die mindestens 30 Euro Miete pro Quadratmeter zahlten, aber keine Kunden hatten? Wer waren all die Menschen, die in den dutzenden neuen Cafés von Novosibirsk plötzlich winzige Stückchen Quarkkuchen für fünf Euro kauften? Woher kamen die unzähligen Rubel, mit denen die vielen Hummer-Geländewagen mitten in Sibirien finanziert wurden? Wie konnte es sein, dass mitten in der Steppe Häuser mit 40 Etagen rentabel erscheinen, wo doch rund herum genug Platz wäre?
Doch meine Skepsis war nicht unbegründet. Während man in Deutschland meinem Eindruck nach von einer Krise redet, ist sie in Russland da. Die Baustellen stehen still, die Einkaufszentren machen dicht, die Preise für Dienstleistungen aller Art sinken wieder auf ein Niveau, welches auch der Qualität entspricht. Sicher tragisch für jene, die sich an das angenehme Leben mit Quarktorte im Einkaufszentrum gewöhnt hatten. Und noch tragischer für jene, die zu Zeiten des Booms Kredite mit 20 Prozent Zinsen für eine Wohnung aufgenommen hatten - im Glauben, dass die Preise selbst westeuropäische Maßstäbe überschreiten werden.
Angesichts der persönlichen Schicksale, die Krisen für die betroffenen Menschen bedeuten, muss man Worte mit Bedacht wählen. Aber insgeheim bin ich dennoch froh, dass der russische Größenwahn, welchen ich 2008 zunehmend unangenehm empfand, einen starken Dämpfer bekommen hat. Und ebenso beruhigt es mich, dass das wilde Wachstum, welches der SPIEGEL vergangenes Jahr noch mit neoliberalen Worten vergötterte, doch nicht so grenzenlos war, wie es schien.