Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)
Winterende und Masleniza
In Sibirien ist der Frühling eingezogen. Natürlich kein Frühling im deutschen Sinne.
Vor der Tür liegen noch immer ein halber bis zwei Meter Schnee, der nicht von Plusgraden sondern von der starken Sonne weggebraten wird. Seit rund einer Woche verwandelt sich das prächtige Weiß in eine grau-schwarze Masse. Die schmelzenden Schneeberge mit ihren dunklen Kratern bilden richtig interessante Strukturen, die man angesichts ihrer Bestandteile aber auch apokalyptisch bezeichnen könnte. Das Schwarz bilden abgelagerte Autoabgase der letzten drei Monate, garniert mit Streusand, Hundekot oder Kippenschachteln.
Heute stieg das Thermometer in Novosibirsk erstmals seit November auf über Null Grad. Wie jeden Winter hatten wir etwa zehn Tage mit 30 Grad, weitere drei Wochen mit unter 20 Grad. Die restlichen zwei Monate waren es zwischen 5 und 15 Grad, "mit dem Zeichen Minus" - wie es im Radio so schön heißt. Der kälteste Tag lag bei minus 36 Grad.
Außergewöhnlich war der Schnee in diesem Jahr - fast zwei Meter. Um ein Einbrechen der Dächer im Frühjahr zu vermeiden, ist es angesichts solcher Massen üblich, die Dächer Ende Februar / Anfang März von ihrer Last zu befreien. Absperrbänder in Höfen sollte man daher immer beachten - im besten Fall sind Schneelawinen von oben zu erwarten, im schlimmsten Fall aber auch abstürzende Eiszapfen. Eiszapfenopfer sind leider keine Seltenheit in Sibirien! (Im Anhang einige Bilder vom Schneeräumen auf dem Gartengrundstück meiner Schwiegereltern.)
Eingeleitet wird der sibirische Frühling durch das Masleniza-Fest. Aus religiöser Sicht entspricht dieser Brauch dem Karneval - in der letzten Woche vor der Fastenzeit muss es krachen! Während die Rheinländer Lastwagen mit Pappmascheefiguren durch die Innenstädte schicken, Fußgänger mit Bonbons bewerfen und eigenartige Reden halten, verbrennen die Russen Vogelscheuchen, backen Blini und singen eigenartige Lieder.
Die Vogelscheuchen symbolisieren den Winter, der also unter Missachtung demokratischer Grundwerte verabschiedet wird.
Russiche Bliny entsprechen sächsischen Eierkuchen, rheinischen Pfannkuchen oder französischen Crepes - nur sind sie deutlich dünner. Sie sollen den Übergang von fettigen Winteressen zur Fastenkost versüßen, ihre Form symbolisiert wohl ferner die nun länger scheinende Sonne. Oft werden sie mit Quark oder Hackfleisch gefüllt, aber auch mit saurer Sahne oder hausgemachter Marmelade gegessen. Traditionell sollen Schwiegermütter ihren Schwiegersöhnen in der Festwoche am Mittwoch Bliny backen, die Schwiegersöhne sollten sich dann am Freitag revanchieren. Sehr praktisch, dass die Schwiegermutter vorlegen muss, dies reduziert die Gefahr eines Familienstreits.
Die Festwoche wird begleitet durch diverse andere Bräuche - in Dörfern beispielsweise "Wand gegen Wand". Die jungen Männer des Dorfes machen den Oberkörper frei, stellen sich in zwei Linien auf und ... ja ... prügeln auf einander ein, bis eine Seite gewonnen hat. Zugegeben verliert dieser Brauch in letzter Zeit an Bedeutung.
Die Frauen messen sich sowieso friedlicher, beispielsweise mit rhythmischen Vierzeilern zu einer festen Melodie. Die Sprüche sind stets lustig, oft mit sexueller Ausrichtung und einer entsprechenden Lexik. Ein Beispiel, frei übersetzt:
"Will mich nicht mehr versöhnen,
mit dem Wallach, dem schönen,
'nen neuen Helden hab ich längst,
ist ein Scheusal, aber Hengst!"
Den Abschluss findet das die Masleniza-Woche mit dem (Sonn)tag der Vergebung, an dem man allen Bekannten sagen soll: "Verzeih mir für alles!". Die Antwort sollte: "Gott verzeiht!" sein, was bedeutet, dass dies nun Gott zu entscheiden hat - persönlich hat man quasi schon verziehen. Äußerst lustig ist dies, wenn man jemanden sagt: "Verzeih mir für alles!" ... und dieser begreift überhaupt nichts, weil er das ganze Masleniza-Fest verpennt hat!
Ich habe natürlich daran gedacht und selbst mit meiner Schwiegermutter Blini ausgetauscht!