Briefe an Freunde, Novosibirsk (Norbert Schott)

Wohnrecht

17. Mai 2006

Seit Freitag habe ich ganz formell die "Genehmigung zum vorläufigen Aufenthalt" in Russland, quasi ein Wohnrecht auf Probe. Obwohl ein Aufenthaltsrecht für den Ehepartner einer Russin eigentlich selbstverständlich sein sollte, vergingen seit meinem Ja-Wort 384 Tage! 384 Tage ... eine sehr lange Geschichte:

Das vorläufige Aufenthaltsrecht beantragt man im Einwohnermeldeamt. In meinem Fall war die staatliche Inspektorin Alla Wasiljewna im Stadtbezirk Perwomajski Rajon ("Erster-Mai-Bezirk") zuständig. In den ersten Wochen nach unserer Hochzeit war Alla Wasiljewna leider im Urlaub und ihre Kollegin wusste nicht, welche Unterlagen ich organisieren muss. Erst im Sommer erfuhr ich, was ich benötige:

  1. Ein Führungszeugnis aus Deutschland mit beglaubigter amtlicher russischer Übersetzung. Dieses kann ich hier im Generalkonsulat bestellen. Nach sechs Wochen bekommt man einen grünen Zettel demzufolge man ein braver Deutscher ist. Leider wird der Zettel maschinell auf kopiergeschütztem Papier erstellt - ohne Stempel und Unterschrift. Die Übersetzung eines Blattes ohne Stempel und Unterschrift kann aber von einem russischen Notar nicht beglaubigt werden. Die Übersetzung des deutschen Generalkonsulats ist wiederum nicht gültig. Immerhin war ein Notar bereit, die Übersetzung einer amtlichen Kopie des Originals - bestätigt mit einem Stempel (!) des Generalkonsulats - zu beglaubigen.
  2. Vier Passfotos im Format drei mal vier Zentimeter nach den Standards für russische Pässe, also schwarz-weiß mit ausgebleichten rändern und weißem Hintergrund.
  3. Einen Drogentest. nach Zahlung von 101 Rubel (3,06 Euro) und einigem warten wurde ich vom Arzt konsultiert:
    "Haben sie schon einmal Drogen genommen?"
    "Nein."
    "Nie im Leben?"
    "Nein."
    "Zeigen sie bitte ihre Armkehlen.“
    Nach erfolgloser Suche nach Nadeleinstichen: "Auch nichts geraucht, keine Tabletten?"
    "Nein."
    "Kein Marihuana oder andere Drogen?"
    "Nein, nur legale Drogen wie Wodka!"
    Mit abwertendem Blick: "Strecken sie die Arme vor, schließen sie die Augen und führen sie den Zeigefinger auf die Nasenspitze.“
    Dazu war ich in der Lage, also bekam ich einen Zettel, der an der Kasse wiederum in den nötigen Bescheid umgetauscht wurde.
  4. Einen Aidstest. Nun hatte ich einen Einstich im Arm. Die Bestätigung, dass ich kein Aids habe, wurde zu meinem Erstaunen auch in englischer Sprache ausgestellt - das erste englische Formular, welches ich in Russland gesehen habe. (Warum ich als Verheirateter einen Aidstest brauche, der Tourist in Moskaus Stripbars aber nicht, verstehe ich dennoch nicht.)
  5. Einen Tuberkulosetest aus einem Krankenhaus irgendwo im Wald, 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Zuerst lässt man sich röntgen, dann schreibt der Röntgenarzt der Lungenärztin einen Bescheid, damit die Lungenärztin dann wiederum ihre Meinung zu Papier bringen kann. Leider war der Röntgenarzt krank und seine Vertretung kam nur zweimal die Woche im Wald vorbei. Nur dank dem vollen Einsatz meines Akzentes konnte ich die Krankenschwester überzeugen, mir den Röntgenbescheid sofort zu geben ("Wenn wir aber feststellen, dass Sie doch krank sind, rufen wir Sie an und Sie müssen den Bescheid vernichten“). Die Lungenärztin wiederum schaute galant weg, dass der Stempel des Röntgenarztes fehlte, und wunderte sich eher darüber, dass ich das Röntgen noch vor dem Stromausfall geschafft hatte.
  6. Kinder in Jekaterinburg am 9. MaiEinen Bescheid vom Hautarzt. Warten, ausziehen, anschauen lassen, Blut abnehmen - "gesund“, meinte die Amtsärztin des Regierungsbezirks Nowosibirsk. Was sie sagt, interessiert aber nicht im Ersten-Mai-Bezirk! Insofern schickte mich Alla Wasiljewna nochmals ins Krankenhaus im Wald, zum Amtsarzt des Stadtteils. Ich hatte aber keine Lust auf nochmaliges Warten, Ausziehen, anschauen Lassen und Blut Abgeben. Für 150 Rubel ohne Quittung ging die Umwandlung des falschen Bescheids in einen richtigen ohne neue Untersuchung.
  7. Ein vierseitiges Antragsformular. In zweifacher Ausführung.
  8. Einen handgeschriebenen Antrag.
  9. Ein Einkommensnachweis. Ksenia muss theoretisch nachweisen, dass sie unser leben finanzieren kann. Viele Arbeitgeber zahlen genau den festgelegten Mindestlohn - in etwa die offiziellen minimalen Lebenshaltungskosten -, der Rest fließt an der Steuer vorbei. Auch bei Ksenias altem Arbeitgeber war es so. Zum Glück arbeite ich in Russland legal mit einer Greencard, insofern konnten wir mein Einkommen angeben. Natürlich nicht ohne Kopien meiner Greencard und der Berechtigung meines Arbeitgebers, Ausländer zu beschäftigen.
  10. Einen Wohnnachweis. Um meinen offiziellen Wohnsitz - bei Ksenias Oma im kriminellsten aller Novosibirsker Stadtbezirke, dem oben erwähnten Perwomajski Rajon - zu bestätigen, forderte alla Wasiljewna einen notariell beglaubigten Mietvertrag, eine notariell beglaubigte Einverständniserklärung der Oma zur Registrierung, einen Antrag der Oma, die Unterschrift des Direktors der kommunalen Hausverwaltung im Stadtviertel auf dem Formular N1, eine Kopie der Besitzurkunde für die Wohnung und eine Kopie des Passes der Oma. Der lokale Notar meinte beim ersten Besuch mit der Oma, dass es keine notariell beglaubigten Mietverträge gäbe. Alla Wasiljewna verzichtete darauf, da man mit der Oma seiner Frau sowieso keinen Mietvertrag braucht. Beim zweiten Besuch stellte mir der Notar immerhin die Einverständniserklärung auf drei Jahre aus. Alla Wasiljewna wollte sie aber nur für ein Jahr, also fuhren wir mit der Oma noch mal zum Notar.
    Meine besuche der kommunalen Hausverwaltung im Stadtviertel habe ich nicht gezählt. Auch hier hatte ich das Formular N1 für drei Jahre und musste es umschreiben lassen - in dem Moment hatte aber der Direktor gekündigt. Nachdem es eine Nachfolgerin gab, hatte sie noch keine Schulung für das Formular N1 bekommen. Später war sie immer unterwegs. Offiziell sollte natürlich immer die Oma mit, welche ich aber kurzerhand als bettlägerig dargestellt habe.
  11. Einen Einzahlungsbescheid über 400 Rubel. Solche Einzahlungen kann man nur in der Sparkasse im entsprechenden Stadtviertel machen, wo auch meist (!) die entsprechenden Kontoverbindungen ausgehängt sind. Neben dem Empfänger ("UFK MF RF po NSO (GUWD NSO)" – "Amt der Föderalen Staatskasse des Finanzministeriums der Russischen Föderation im Novosibirsker Regierungsbezirk (Hauptamt für innere Angelegenheiten)") sind die Steuernummer (10 Ziffern), die steuerklassifikationsnummer (9 Ziffern), die territoriale Klassifizierungsnummer (11 Ziffern), die Empfängerbank ("GRKZ GU banka rossii po novosibirskoi oblasti g. novosibirska“ – "Hauptabrechnungs- und Kassierungszentrum des Staatlichen Amts der Bank Russlands im Novosibirsker Regierungsbezirk, Stadt Novosibirsk"), die Bankleitzahl (9 Ziffern), der Überweisungszweck (auf 3 Zentimeter: "Staatliche Gebühr für die Ausstellung einer vorübergehenden Aufenthaltsgenehmigung für ausländische Staatsbürger oder Staatenlose“), die Kontonummer (20 Ziffern) und die Budgetklassifizierungsnummer (20 Ziffern) anzugeben. Alles ist doppelt per Hand einzutragen, die Schalterdame tippt später alles wieder ab. Die Ausfüllbeispiele, die meist (!) aushängen, sehen natürlich anders aus, als die ausliegenden Überweisungsbelege.


Im September hatte der Stapel Dokumente die erforderliche Mindesthöhe von einem knappen Zentimeter erreicht und Alla Wasiljewna war bereit, ihn vorläufig zu prüfen. Dies dauerte zwei Wochen - in dieser zeit kommen auch russische Einwanderungsbehörden gern Zahnbürsten überprüfen. (Da hat man schnell von Deutschland gelernt.) Nach zwei Wochen war der Blätterstapel um zwei Bestätigungen von Alla Wasiljewna angewachsen und ich musste ihn persönlich in die zentrale Einwohnermeldestelle des Regierungsbezirks bringen. Dort teilte man mir mit, dass ich nun noch ein halbes Jahr geprüft werde.

Im März rief Alla Wasiljewna Ksenia an - eine Seltenheit für russische Ämter. Eigentlich warten sie, bis man selbst nachfragt. Wir sollten schnell vorbeikommen und etwas erledigen. Im amt gab uns Alla Wasiljewna ein Blatt Papier, wir sollten es zur benachbarten Polizeistation gehen und es schnell ausgefüllt wiederbringen: Der Polizeikommissar war telefonisch bereits informiert, dass er bestätigen sollte, mich überprüft zu haben: "Wohnsituation überprüft, Nachbarn und Hausältesten befragt, keine Beschwerden!" Da mir diese Überprüfung sehr gefiel, versüßte ich meinen Antrag bei Alla Wasiljewna mit einer besonders leckeren Tafel Schokolade.

In den letzten Wochen musste ich mit der Oma noch einmal ein neues Formular N1 holen, jetzt wieder für drei Jahre. Und wir mussten gemeinsam zu Alla Wasiljewna fahren, deren einzige Worte zur Oma: "Setzen sie sich doch hin!" waren. Auch die Bestätigungen vom Arbeitgeber waren inzwischen unaktuell und bedurften einer Erneuerung. Ferner sollte ich noch einmal 600 Rubel auf die ominösen Konten in der Sparkasse einzahlen.

Zu guter letzt wurden noch meine Fingerabdrücke genommen: alle Finger einzeln, alle Finger zusammen, die Handflächen, die Daumen und noch zwei Kontrollabdrücke vom Zeigefinger. Und weil das Blatt wegkommen kann natürlich alles in zweifacher Ausführung! Und schon bekam ich mein vorläufiges Aufenthaltsrecht.

Fazit: Selbst die Ärzte im Wald wissen nun, warum ein Deutscher in Sibirien lebt. Ich kenne alle Übersetzungsbüros der Stadt. Und mit Alla Wasiljewna verstehe ich mich inzwischen richtig gut. Wir sind ein eingespieltes Team: Wenn ihr Telefon klingelt und sie nickt, muss ich an die Wand klopfen, damit die Beamtin im Nachbarzimmer weiß, dass der Anruf für sie ist. Nur die anderen Kunden schauen ein wenig doof.

Anbei noch zwei Fotos aus Jekaterinburg, von der Panzerausstellung zum Tag des Sieges.