Briefe an Freunde, Tutujas (Norbert Schott)
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nach nun fast eineinhalb Jahren sind wir endgültig wieder in der Stadt gelandet. Während ich schon seit Juli nur noch am Wochenende im Dorf war, sind Xenia, Jan und Arthur Ende August zurückgekehrt. Um direkt noch zwei Wochen nach Europa zu reisen. Aber seit einer reichlichen Wochen sind wir nun wieder ganz gewöhnliche Stadtbewohner und Arthur hatte heute den lang ersehnten ersten Tag im Kindergarten.
Natürlich werden wir das Dorf vermissen. Selbst wenn wir irgendwann einmal wieder zurückkehren würden - das Dorf wäre nicht mehr so, wie wir es jetzt erleben durften.
Unser Nachbar Michail Michailowitsch Jastrebzew - einst Geschäftsführer im Sägewerk des Arbeitslagers - ist 81 und hofft, dass er noch sein 60. Jahr im Dorf erleben wird. Das wäre in zwei Jahren. Noch steht er auf den Weiden und macht Heu mit der Sense. Kann riesige Holzschlitten mit einfachsten Mitteln bauen. Kümmert sich um seine 25 Bienenstöcke. Seine Frau Olga Semjonowna Jastrebzewa - früher Lehrerin in der Dorfschule und zwei Jahre älter - pflegt und melkt die Kühe. Erst seit letztem Sommer hilft den beiden ihr Sohn, der extra aufs Dorf zurückgekehrt ist.
Nicht jeder Hof hat einen Nachfolger. Bei Ilja Iwanowitsch Archipow - einst Wächter in einer der Strafkolonien - konnten wir jetzt noch jede Woche Quark und Sahne kaufen. Arthur und Jan haben seinen kleinen Kätzchen beim Wachsen zugeschaut. Aber wenn seine Kinder oder Enkel zu Besuch kommen, bringen sie lieber ein iPad mit, als dem alten Archipow bei den Enten, Hühnern, Kaninchen, Kühen oder zehn Bienenstöcken zu helfen. So humpelte der Traktor - nur unwesentlich jünger als sein Besitzer - mit plattem Reifen durchs Dorf und das Haus verfällt mehr und mehr. Im Juni ist eines Nachts der Ziegelofen zusammengebrochen - im August hat ihn Ilja Iwanowitsch selbst wieder zusammengesetzt.
Im Frühjahr stand Ilja Iwanowitsch vor seinem Tor und zählte die Kühe, die durchs Dorf trottenten - ganze 20 Tiere sind es noch. Einst hatte das Dorf 300 Höfe. Nun gibt es noch sieben ausgewachsene Kühe, dazu gehört jeweils ein Jungtier aus dem Vorjahr und das Kälbchen vom Frühjahr. Im Herbst wird die Kuh oder das Jungtier geschlachtet, denn über den Winter möchte man möglichst wenig Heu verbrauchen und möglichst viel Fleisch essen - dank der Temperaturen braucht man zur Lagerung auch keinen Kühlschrank.
Immerhin gibt es einige wenige Neuankömmlinge, die genau diesen Pragmatismus suchen: Einen Tagesablauf, der sich nicht nach Börsenkursen oder anderen Errungenschaften der Zivilisation richtet, sondern an der Kuh, die gemolken werden will: Früh nach Sonnenaufgang und abends, wenn die Wiederkäuer vom Dorfspaziergang zurückkehren und energisch vor ihrem Tor um Einlass bitten - jedes der 20 Rindviecher weiss, wo sein Ruf erhört wird.
Belohnung für die anstrengende Zeit im Frühjahr (Vorbereitung der riesigen Beete für Kartoffeln und anderes Gemüse, Pflege der Kälber, Ausmisten der Ställe), Sommer (Heuernte in Mückenschwärmen) und Herbst (Kartoffelernte, Holz hacken, Fleischgewinnung) ist der lethargische Winter im sibirischen Dorf - die Tage sind kurz und außer Heizen und Schneeschippen gibt es nicht viel zu tun. Nur die verrückten jungen Leute aus der Stadt sind ständig im Wald Ski gefahren.