Briefe an Freunde, Tutujas (Norbert Schott)
Frühjahr im Dorf
Das Frühjahr war für mich in Sibirien all die Jahre ein Graus. Matsch, Dreck, Grau. Der Schnee schmilzt und der Schmutz mehrerer Monate kommt zum Vorschein. Zugleich ist es noch so kalt, dass die Bäume kahl bleiben. Selbst Schneeglöckchen und Krokusse wird man nicht finden - zu hoch liegen die Schneereste in den Grünflächen, die das Wörtchen grün auch in keiner Weise verdienen.
In unserem abgelegenen Dorf zeigt sich der sibirische Frühling von einer wesentlich schöneren Seite. Dank der prächtig scheinenden Sonne sehen wir und die Kinder aus wie nach einem Urlaub in der Südsee. So braune Gesichter assoziiert man jedenfalls nicht mit 75 cm Schnee in Sibirien. Der Schnee taut, aber gemächlich - vom Höchstwert 110 Zentimeter (zwischen 15. Februar und 7. März dreimal erreicht) ist noch immer weit über die Hälfte da. Kein Wunder, zählt man die einzelnen Schneefälle (ohne Zusammensacken, Wegfrieren und Antauen) zusammen, kommt man auf 330 Zentimeter Schnee zwischen November und April.
Die Tagestempaturen orientieren sich am aktuellen deutschen Wetter - zwischen minus 2 und plus 10 Grad. Nachts kann es vereinzelt noch unter minus 10 Grad sein.
Selbst die Straße über den Fluss wäre noch befahrbar - wenn man sie nicht gesprengt hätte. Für diesen staatlich verordneten Vandalismus gibt es zwei Gründe. Zum einen sollen die russischen Autofahrer - welche sich bekanntlich nicht durch Vorsicht auszeichnen - von waghalsigen Überfahrten abgehalten werden. Da allein das Sprengen nicht reicht - schließlich kann man die 72 Krater auch umfahren -, muss jedoch zusätzlich noch ein Schneewall am Ufer errichtet werden. Zum anderen würde die festgefahrene und zusätzlich verstärkte Überfahrt einen Damm bilden, an dem in wenigen Wochen das Eis nicht ungestört abfließen würde - ganze Dörfer könnten so überschwemmt werden.
Seit der Sprengung erreicht man uns nur noch zu Fuß. Der Fußweg führt 3 Meter neben den Kratern entlang - so tragfähig ist das Eis an dieser Stelle noch immer. Jedoch ist die Straße im Dorf nur noch mit geländegängigen Fahrzeugen passierbar. Durchschnittlich zwei Autos fahren am Tag noch vorbei - meist Lada Niva oder UAZ der Dorfbewohner, um Gäste vom Fluss abzuholen. Oder um, wie morgen unser Nachbar, zum Zahnarzt zu fahren (beziehungsweise ab dem Fluss zu laufen).
Wir haben genug Vorräte bis Mai, wenn das Eis weg ist und die ersten Motorboote wieder übersetzen - und ersparen uns bis dahin Ausflüge in die Stadt.
So merken wir vom üblichen sibirischen Frühjahrsdreck überhaupt nichts - selbst die Straße ist noch immer weiß, alleinfalls einige besonders tiefe Pfützen im Schnee sind bräunlich. Die Bäume wirken in dieser weißen Pracht auch nicht grau, sondern ihre jungen Triebe schimmern rötlich. Unser Bach im Dorf bricht langsam auf - das Moos darin ist bereits grün.
Wenn ich diese Eindrücke mit dem aktuellen Wetterbericht aus Deutschland vergleiche, so revidiere ich alle meine früheren Ansichten zum sibirischen Frühling: Nein, man muss sich doch keine Dienstreise im April organisieren!