Briefe an Freunde, Tutujas (Norbert Schott)

Hallig in Sibirien

09. Mai 2013

Wie so häufig in Sibirien ist der Winter direkt in den Sommer übergegangen. Bei meiner letzten Mail vor reichlich einem Monat lag noch deutlich über einen halben Meter Schnee, heute hatten wir (plus) 27 Grad (im Schatten). Rückblickend auf den Winter bin ich sehr erstaunt, wie sehr sich Russland doch um so abgelegene Orte wie unser Dorf bemüht - dies entspricht so gar nicht dem Ruf des Landes, welches die Provinz und einfachen Leute vergessen würde. Offiziell - also als Hauptwohnsitz gemeldet - gibt es im Dorf noch 23 bewohnte Häuser. Faktisch sind es auch im Winter etwa doppelt so viele. In den anderen Siedlung entlang unseres Flüsschens sind weitere fünf Häuser ganzjährig genutzt. Was für ein Aufwand wird für diese paar Leute - fast durchgehend Rentner - betrieben! Als Ende Oktober die Überlandleitung ins Dorf durch umgestürzte Bäume zerstört wurde, hatten wir innerhalb von 24 Stunden wieder Strom - obwohl es über den großen Fluss keine Fähre mehr und noch keine Eisüberfahrt gab. Aber extra für solche Fälle gibt es Vereinbarungen mit Boots- und Autobesitzern auf diesem Ufer. Damit die rund 100 Seelen ab Dezember wieder Anschluss an die Außenwelt haben wird Straße über das Eis errichtet - künstlich verdickt, periodisch geprüft und ständig bewacht. Auch die Straße durch den Wald und alle Gassen im Dorf wurden mindestens alle zwei Wochen mit schwerer Technik geräumt - obwohl es durchaus auch vorkommen konnte, dass die Straße mehrere Tage aufgrund von Neuschnee oder Schneewehen nicht passierbar war. Damit die Siedlung direkt am Fluss aufgrund der unnatürlichen Barriere im April nicht überschwemmt wird, rückt im März extra ein Sprengkommando mit 170 Kilogramm Sprengstoff an und beseitigt die Straße wieder. 2013:

2012:

Dafür überschwemmte es unser Dorf - im Unterlauf staute sich an einer Sandbank das Eis aus dem Oberlauf. Über drei Kilometer standen die Eisschollen und das Wasser suchte sich Umwege über unsere Gärten. Bei uns im Grundstück stand es knietief. Die Kühe eines Nachbarn mussten wir um Mitternacht überzeugen, durch tiefen Restschnee auf die Veranda des Hauses umzuziehen. Seit 1964 gab es kein ähnliches Hochwasser mehr.

Die ersten 20 Stunden begnügte sich die extra für solche Fälle eingerichtete Hotline mit Anrufen bei Verantwortlichen, Besprechungen, Abklärungen und ständigen Rückrufen bei den Dorfbewohnern, ob es denn wirklich so schlimm wäre. Aber dann wurden mehrere Hubschraubereinsätze geflogen und der Fluss wurde mit gewaltigen Sprengladungen vom Eis befreit - so stark, dass uns Jan im zwei Kilometer entfernten Haus umgekippt ist und ich mir den Tee über die Beine geschüttet habe.

Natürlich rühmte man sich sofort auf allen Kanälen mit seinen Heldentaten - die ersten Presseberichte über die erfolgreiche Rettung des kleinen Dorfes liefen über den Ticker, da war der Hubschrauber gerade zum ersten Flug gestartet. Das Wasser lief noch einen halben Tag durch die Gärten, aber in den PR-Meldungen war schon alles in trockenen Tüchern.

Nichts desto trotz: Wenn man das alles überschlägt, dann erkennt man einen Aufwand, den selbst Deutschland allenfalls auf den Halligen für seine Bewohner betreibt. Allein die Hubschraubereinsätze haben ein Vielfaches dessen gekostet, was dieses Dorf über Jahre an Steuern bringt - wobei ausser der Mehrwertsteuer bei den seltenen Einkäufen in der Stadt vermutlich sowieso niemand irgendwelche Steuern zahlt.

Nun bemüht sich die Dorfvorsteherin übrigens sogar um eine Neubesetzung der alten Krankenstation. Unter anderem wegen unserer Kinder. Den Rentnern zuliebe, die sich seit Jahren eine Krankenschwester wünschen, haben wir nicht extra darauf hingewiesen, dass unser Aufenthalt hier bald zuende geht.