Briefe an Freunde, Tutujas (Norbert Schott)

Presse und Wirklichkeit

24. Dezember 2012

Wir haben weiße Weihnachten. Aber es ist zugegeben etwas frisch. Seit zwei Wochen sind es nachts um die -40 Grad, tagsüber etwa -30 Grad. Rekord waren -45 Grad am Dienstagmorgen. Klingt natürlich spektakulär, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis die gewöhnlichen Horrorgeschichten in der Presse auftauchen.

spiegel.de: Bis zu minus 57 Grad - Russen erleben heftigsten Winter seit 50 Jahren

Beginnen wir mit der Überschrift: "Russen erleben heftigsten Winter seit 50 Jahren". Da hat der Redakteur wohl die Originalnachricht der Agentur (dpa) nicht richtig gelesen, denn dort heißt es korrekt: "In Russland herrschen derzeit die heftigsten Dezemberfröste seit 50 Jahren." Mit anderen Worten: Der Dezember war etwa so kalt, wie es normalerweise erst im Januar wird. Das ergibt aber noch keinen Rekordwinter.

"Am schlimmsten ist es in der riesigen Teilrepublik Sacha in Sibirien. Dort sinken die Temperaturen in diesen Tagen auf bis zu minus 57 Grad." Ein Blick in das Lexikon hätte geholfen - in Sacha liegt der Kältepol der Erde, dort wurden schon -71 Grad gemessen. Im Januar sind beispielsweise in Oimjakon -50 der Durchschnitt. Einzelne Tage mit -57 entsprechen also in etwa dem Sack Reis, der in China umgefallen ist.

"In Moskau warnen Ärzte vor Gesundheitsproblemen: Kinder unter drei Jahren sollten bei Temperaturen ab minus 20 Grad nicht mehr aus dem Haus." Indirekte Zitate ohne Namen machen sich immer gut, weil nicht nachprüfbar. Alla Gennadjewnja Popowa, Kinderärztin in der 1. Polyklinik Novosibirsk, rät auch bei -30 Grad selbst mit Neugeborenen spazieren zu gehen - mit entsprechender Kleidung natürlich. Man kann doch nicht monatelang nur im Haus sitzen?! Selbst mit Erkältung wurde uns zu kurzen Spaziergängen geraten.

"Wer schnell in den Supermarkt springt, lässt den Motor wie selbstverständlich laufen - der Wagen würde sonst nicht wieder anspringen." Vollkommener Blödsinn - wenn ein Auto erst einmal warmgelaufen ist, springt es noch ein bis drei Stunden später wieder an. Erst dann muss man kreativ werden. Da uns eine Feuerstelle in der Garage als zu komplex erscheint, stellen wir beispielsweise für eine Stunde einen Heizlüfter unter das Auto. Bei -40 Grad lässt sich so selbst ein französischer Wagen wieder starten.

"Jeden Tag sterben Dutzende Menschen an Kohlenmonoxidvergiftungen oder bei Gasexplosionen, weil sie sich an maroden Öfen oder offenen Feuern wärmen wollen." Wie schafft man es, sich an einem offenen Feuer zu vergiften? Oder machen dpa-Redakteure offene Feuer in geschlossenen Räumen? Und wegen eines maroden Ofens erfriert man, aber man holt sich wohl kaum eine Kohlenmonoxidvergiftung. Der Grund ist ein anderer: in den traditionellen Holzhäusern mit ihren riesigen Ziegelöfen wird ein oder zweimal am Tag kräftig geheizt und danach der Schornstein mit einer Klappe verschlossen - damit es nicht die ganze warme Luft aus dem Haus nach oben herauszieht. Natürlich sollte man die Klappe erst schließen, wenn kaum noch Glut im Ofen ist. Sollte.

"Wegen des schweren Frosts planen zahlreiche Russen zu Neujahr die Flucht ins warme Ausland." Der Frost begann vor knapp zwei Wochen - so schnell wird auch im sehr spontanen Russland kein Urlaub angesetzt. Und dass warme Ziele eine nette Idee über die Neujahrsferien sind, hat sich hier schon länger rumgesprochen.

"Mit flaschenweise Wodka wärmen sich nicht nur Obdachlose auf." Das stimmt sogar. Letzte Woche ist auf der Überlandstraße zwischen Novosibirsk und Omsk ein Zirkustransporter ausgebrannt. Die Tiere - zwei Elefanten - konnten gerettet werden. Damit sie nicht erfrieren, hat ihr Tierpfleger sie zunächst die Straße entlanggetrieben. (Man stelle sich bitte das Bild vor - zwei Elefanten rennen bei tiefem Frost eine verschneite Bundesstraße entlang, dahinter ein Typ im Trainingsanzug.) Da auch der Zirkusdirektor keinen Elefantentransporter herzaubern konnte, behalf man sich mit zwei Kästen Wodka vermischt mit Wasser, um den Blutkreislauf der Tiere in Gang zu halten, bis Hilfe eintraf. Die Tiere konnten die Nacht dann im nächsten Städtchen in einer Garage verbringen.

Nicht gerettet wurde übrigens einer der drei Traktoren im Fluss bei uns. Er ist nun komplett eingefroren.

P.S.: Unsere drei Traktoren im lokalen Fernsehen: