Briefe an Freunde, Tutujas (Norbert Schott)

Winter

03. März 2013

In den 1920er Jahren wurde der Februar in Sibirien noch so wahrgenommen: "Wehe aber, wenn uns ein 'Buran' (sibirischer Schneesturm) überraschen würde! Er risse die Schneedecke trotz ihrer Härte auf, und die beissenden Schneenadeln würden uns die Haut zerfetzen, wo sie ihnen ausgesetzt wäre. Dann würden es die Wölfe wagen, den Kampf mit uns aufzunehmen, und eine stille Tragöde des sibirischen Winters spielte sich ab. Hie und da sehen wir solche Spuren, wenn ein Schlitten am Wegrande einsam daliegt und ein paar Pferde- und Menschenknochen von der unbezähmbaren Gier einer hungrigen Wolfsmeute zeugen. Wie mancher Bauer, der weit in die Stadt auf den Markt gefahren ist, kehr so nie mehr nach Haus zurück!" (aus "Sibiriens Wälder raunen", Ernst Jucker, Bern 1951)

Wir waren dieser Tage weit in die Stadt zu Metro Cash&Carry gefahren, um Vorräte für das kommende Frühjahr ohne Straßenanschluss zu kaufen, trotz Schneesturm. Hungrige Wolfsmeuten gibt es heute kaum noch. Vielleicht wären sie zur Abschreckung gut, damit junge Leute bei Fahrten durch den nächtlichen verschneiten Winterwald wenigstens eine Schaufel mitnehmen würden. Damit sie nicht auf die zufällig um 23:00 vorbeikommende Familienkutsche (mit Schaufel) angewiesen wären, die sie aus dem Seitengraben herausziehen muss.

Aber auch ohne Wölfe sind die Schneestürme eindrucksvoll. Während der wenigen Stunden, die wir in der Stadt waren, hatte es alle Wege im Grundstück verweht. Mit den Einkäufen in der Hand versuchten wir also, die alten festgetrampelten Pfade zu erahnen - und versanken mehrfach im tiefen Schnee. Davon war am nächsten Morgen wiederum nichts mehr zu erahnen - alles neu zugeweht.

Selbst die Straße ins Dorf wird regelmäßig unpassierbar - selbst für geländefähige Lkws. Glücklicherweise hat der Bürgermeister der Nachbarstadt seit einigen Jahren seine Ferienresidenz auf halber Strecke ins Dorf. Seitdem wird dieser Teil der Straße - zufällig jener, der anfällig für Schneewehen ist - immer sehr zügig geräumt.

Legt sich der Wind dann, so zeigt sich der sibirische Winter von seiner schönsten Seite. Statt der Pferde- und Menschenknochen vor 100 Jahren erfreuen wir uns heute an den Spuren des Windes auf den Feldern - endlose Flächen voller bizarrer Schneeformen. Alles glitzert in der Sonne, die nun schon wieder deutlich länger und kräftiger scheint. Die Kinder erfreuen sich an den meterhohen Schneehaufen, welche die Schneepflüge hinterlassen - selbst der Schnee von der Straße ist so sauber und weiß, dass man auf diesen Haufen wunderbar spielen kann.

Im Wald haben wir inzwischen ein ganzes System vom Skiloipen angelegt, inklusive einer kleinen Fläche für Picknicks mit den Kindern. Zum nächsten Hang für Abfahrtsski sind es auch nur 25 Minuten mit dem Auto - einer darf Skifahren, der andere kann mit dem Nachwuchs rodeln gehen.

Langsam beginnen die Frühjahrsvorbereitungen - zunächst sind alle Dächer vom Schnee zu befreien, bevor er feucht und schwer wird. Versäumt man dies, brechen die Dächer innerhalb weniger Jahren ein - die letzten Wochen hat es drei verlassene Gebäude im Dorf getroffen. Die Kohlevorräte sollte man jetzt aufstocken - so lange das Eis noch die Straße über den Fluss trägt. Während die Fähre nur 3 Tonnen transportieren kann, kann man sich im Winter locker 10 Tonnen liefern lassen. Holz haben wir uns selber geholt - mit Abschleppseil am Auto haben wir jene Bäume mitgenommen, die vom Energieversorger unterhalb des Stromkabels zum Dorf gefällt wurden.

Des Nachbars Kuh bekommt in den nächsten Wochen ihr Kalb, Ende März gibt es wieder frische Milch. Etwa zur gleichen Zeit wird die Eisstraße über den Fluss gesprengt. Einige Wochen erreicht man uns dann noch zu Fuß. Nach einer kurzen Pause während des Eisgangs fahren dann die ersten Holzbote über den gewaltig angewachsenen Fluss. Die Fähre wird erst mit Ende des Hochwassers wieder in Betrieb gehen - frühestens Mitte Mai, manche Jahre aber auch erst Ende Juni.

Und dann werde ich auch schon wieder zurück in die Zivilisation müssen. Aber zunächst dürfen wir erst einmal noch den Frühling genießen.